Hetze

Bibelkritik und Antisemitismus

Theodor-Fritsch-Denkmal in Berlin am Bahnhof Zehlendorf-West, um 1935 Foto: Ullstein

Der Streit in der AfD um den Politiker Wolfgang Gedeon und die Spaltung der Fraktion im Baden-Württembergischen Landtag erhitzt nach wie vor die Gemüter. Doch Gedeon ist bei Weitem nicht der Einzige, der alte Vorurteile unters Volk bringt.

So hat jüngst Horst Mahler einen Brief und ein Pamphlet verschickt, unter anderem auch an die Verfasserin dieses Artikels, in denen noch nicht einmal verhohlen und verstohlen antisemitische Anwürfe formuliert werden. In beiden Schreiben, einem Brief an Jörg Meuthen als Bundesvorsitzenden der AfD sowie einem Pamphlet mit dem Titel »Das Deutsche Volk ist berufen, die Menschheit von Satan zu befreien: Was tun?«, legt Mahler seine Weltsicht dar und warnt dabei vor dem »Jüdisch-Deutschen Krieg, der von den Juden geführt wird, um Jahwe das Leben zu retten«.

gutachter Bevor sich nun Gutachter daranmachen werden, zu prüfen, ob und welcher der Herren mehr und schlimmere antisemitische Hetze unters Volk bringen möchte, sei an eine Geschichte erinnert, die schon lange her zu sein scheint, aber heutigentags doch gruselig aktuell anmutet.

1901 gründete der Ingenieur Emil Theodor Fritsch, der 1887 den Antisemiten-Catechismus veröffentlicht hatte, die Zeitschrift Hammer. Blätter für deutschen Sinn. Wie schon im Handbuch der Judenfrage von 1907 rief er darin zum »heiligen Krieg« gegen den »bösen Geist des Judentums« auf. Es ging ihm darum, die Juden als zerstörerische Rasse zu diffamieren, denn er glaubte, dass die jüdische Religion nicht auf denselben sittlichen Grundlagen beruhe wie die christliche.

Fritschs Agitationen gipfelten in einem Angriff gegen die Gottesvorstellung der Hebräischen Bibel: Gott wird zum »Geist der Bosheit und der Lüge« erklärt. Er sei der »Nationalgott des Hebräertums« und, wie die Vätergeschichten schließlich zur Genüge unter Beweis stellten, der »Stammesgötze eines Volkes von Wucherern, Dieben und Betrügern«.

gotteslästerung
1910 erstattete der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) eine erste Anzeige gegen Fritsch. Der Vorwurf lautete auf Gotteslästerung. Der Prozess wurde vor dem königlichen Landgericht Leipzig geführt. Um den Vorwurf der Gotteslästerung von Fritsch abzuwenden, behauptete sein Anwalt, es sei schließlich »nur« »der historische Gott, an dem hier Kritik geübt« werde, und man erwarte von den Juden eine uneingeschränkte Distanzierung von diesem »alten Jahwe«.

Demgegenüber erklärte das Gericht, dass der biblische Gott auch für die Gegenwart Grundlage des jüdischen Glaubens sei. Der Angeklagte hätte wissen müssen, dass durch diese Äußerungen zumindest Teile der Judenschaft in ihren religiösen Gefühlen verletzt würden, weshalb er mit dem Strafmaß von einer Woche Gefängnis schuldig zu sprechen sei. In einem zweiten Prozess 1911 wurde Fritsch wegen Talmudhetze ein weiteres Mal, diesmal zu zehn Tagen Gefängnis, verurteilt.

Im selben Jahr gab Fritsch erneut eine antisemitische Lästerschrift mit dem Titel Der falsche Gott. Beweismaterial gegen Jahwe heraus, die 1933 bereits in zehnter Auflage erschien. Dieses Pamphlet nimmt unmittelbar auf die vorangegangenen Prozesse Bezug und sucht durch eine umfangreiche Beweisführung die Urteilsbegründung des Gerichts zu erschüttern. In toto sucht Fritsch darin den Nachweis zu führen, dass »der jüdische Jahwe nichts gemein hat mit dem Geist der Liebe und Güte, als welchen wir uns Gott vorstellen«.

»rassisch« Im Zuge dieser »Beweisführung« rekonstruiert er zunächst eine abstruse religionsgeschichtliche Unterscheidung zwischen »Israel« und »Juda« als zweier »rassisch« verschiedener Völker, die erst im Laufe der Geschichte eine Vermischung eingegangen seien. Aus den rabbinischen Schriften gehe eindeutig hervor, dass die Juden zu einer »erhabenen Gottesvorstellung«, wie sie anderen Völkern zu eigen sei, niemals in der Lage gewesen seien: Der hebräische Gott sei in allen Stücken ein getreues Abbild der Juden, die sich »den alten Jahwe des Moses« als einen »Geist des Hasses und der Rache« vorstellten, der nur »dem Volke der Beschneidung Gutes zu tun bereit ist«.

Fritschs »Argumentation« führte schlussendlich zu einer perfiden Umkehrung der durch den Centralverein erhobenen Anklage: Entweder sei der »jüdische Jahwe« mit dem christlichen Gott identisch – dann müssten die Äußerungen über Gott in den rabbinischen Schriften als Gotteslästerungen beurteilt und gegen die Rabbiner und ihre Schriften gerichtlich vorgegangen werden. Oder sie seien nicht identisch – dann, so Fritsch, sei »Jahwe« nicht der wahrhaftige Gott, und seine kritische Beleuchtung könne demnach auch keine Gotteslästerung nach § 166 enthalten.

anzeige 1912 ging bei der Leipziger Staatsanwaltschaft eine erneute Anzeige vonseiten des Centralvereins gegen Fritsch ein, diesmal gegen das von ihm herausgegebene Beweismaterial gegen Jahwe. Mehrere Gutachter sollten dabei auf Antrag der Verteidigung die Bedeutung von Talmud und Schulchan Aruch für das zeitgenössische Judentum darlegen sowie die Frage erörtern, ob die Polemik gegen den »biblischen und rabbinischen Jahwe« überhaupt den Gottesbegriff des gegenwärtigen Judentums treffe – beziehungsweise, wie sich das gegenwärtige Judentum zu den Erzählungen der Hebräischen Bibel stelle, in denen dem biblischen Gott »Handlungen oder Aussprüche zugeschrieben werden, die (...) weder vom religiösen, noch vom ethischen (...) Standpunkte gebilligt werden können«.

Der Centralverein benannte David Zvi Hoffmann, Rektor des orthodoxen Rabbinerseminars zu Berlin, und Adolf Schwarz, Rektor der Israelitisch-Theologischen Lehranstalt in Wien. Die Verteidigung bestellte ebenfalls zwei Gutachter: die Alttestamentler Georg Beer und Johannes Meinhold.

Der mit den Voruntersuchungen befasste Richter forderte darüber hinaus ein wissenschaftliches Gutachten von dem seit 1898 in Leipzig lehrenden Alttestamentler Rudolf Kittel, der aber ablehnte und stattdessen Paul Kahle und Israel Issar Kahan als Talmudspezialisten vorschlug. Denn Kittel wusste wohl, dass »wenig profetische Gabe dazu (gehört), um die unangenehmen Folgen, die in jedem Falle eintreten mussten, vorauszusehen«.

Obergutachten Gleichwohl konnte sich Kittel dieser Aufgabe nicht entziehen, denn da die Gutachten erwartungsgemäß stark divergierten, forderte das Gericht ihn auf, ein Obergutachten zu verfassen.

Der Erfolg des Kittel’schen Gutachtens lag in der Einstellung des Verfahrens gegen Fritsch. Das Gericht schreibt in seiner Urteilsbegründung, dass »nach dem Gutachten Kittels (...) aber der durch den Angeschuldigten gelästerte Gott Jahwe nicht der von der Judenschaft Deutschlands heute verehrte Gott« sei, wenn auch »einzelne, außerhalb der Gemeinheit stehende, geistig und religiös nicht reife Juden an ihn noch glauben«. Vielmehr sei es »der vorprofetische Jahwe des alten Israels, aus dem sich namentlich durch die Profeten die den jetzigen Juden heilige Gottesanschauung, die Idee des ethischen und universellen, weltumspannenden Monotheismus entwickelt« habe.

Eine Gotteslästerung liege daher nicht vor. Darüber hinaus stellte das Gericht fest, dass kein hinreichender Verdacht dafür vorliege, dass Fritsch das Judentum in toto habe beleidigen wollen. Seine Beschimpfungen träfen nur jene vereinzelten Juden, die noch an Talmud und Schulchan Aruch festhielten, und diese stünden nach Kahles, Schwarz’ und Hoffmanns, vor allem aber nach Kittels Gutachten außerhalb der jüdischen Religionsgemeinschaft.

Diese Begründung ist in der Tat erstaunlich, hatte doch insbesondere Hoffmann in seinem Gutachten darauf insistiert, dass sowohl der (babylonische) Talmud als auch der Schulchan Aruch nach wie vor die normativen (Rechts-)Quellen für das gesetzestreue Judentum darstellten.

»Blitz- und Wettergott« Fast ebenso abstrus erscheinen uns heute die Darlegungen des protestantischen Theologen Kittel. Dieser führte zum Gottesbegriff aus, dass der »schreckhafte, in naturhaften Ausbrüchen von plötzlichem Zürnen und Wüten sich äußernde Charakter des Jahwe« sich aus den »noch nicht vollständig überwundenen Reste(n) der Anschauung von einem sinaitischen Blitz- und Wettergott« erkläre. Daher habe dieser Gott bisweilen in einer Weise gehandelt, wie es einem »sittlichen, sittlich heiligen Gott« nicht anstehe.

Zu den »sittlich bedenklichen« Erzählungen passe auch Jahwes Parteilichkeit gegenüber Israel. Im Erwählungsgedanken liege der Keim eines Gedankens, der »für Israels ganze Entwicklung verhängnisvoll wurde«.

Mit Blick auf die Frage, ob das zeitgenössische Judentum und sein Gottesbild von Fritsch beleidigt worden seien, antwortete Kittel, dass der Gott des Judentums, zumindest des Judentums innerhalb des deutschen Reiches, derselbe sei wie der christliche. So wie christliche Gelehrte zu einer höheren, wissenschaftlich begründeten Auffassung der Bibel gelangt seien, erhoffe er dies auch für die jüdischen Gelehrten, »wollen sie zu uns gehören und die unsern bleiben«. Kein Zweifel bestehe daran, dass das religionsgeschichtliche Wissen um die Bibel bei aufgeklärten Juden dazu führen müsse, jenen »niederen Jahwe« nicht mehr als ihren Gott anzuerkennen.

Gegendarstellungen Der Freispruch Fritschs und das erst auf Drängen des Centralvereins veröffentlichte Gutachten Kittels lösten auf jüdischer Seite eine Reihe von Gegendarstellungen aus. Schon 1915 hatte Moritz Guedemann in einer Abhandlung mit dem Titel Eine spasshafte Prozessgeschichte mit ernstem Hintergrund lakonisch bemerkt, dass »Fritsch jetzt jeder beliebigen Judengemeinde in Deutschland ungestraft nachsagen kann, daß sie den vorprophetischen Gott des alten Israels anbete, also den Geist des Hasses und der Rache«.

Die ausführlichste Gegendarstellung legte 1917 der Würzburger Halachist und Rechtshistoriker Jacob (Jekutiel) Neubauer vor. Neubauers Darlegungen lassen erkennen, dass es ihm nur vordergründig um die antisemitischen Pamphlete des Herrn Fritsch und ihre durch Kittel besorgte religionsgeschichtliche Entschärfung ging.

In Wirklichkeit hatten sich die jüdischen Intellektuellen mit dem Problem auseinanderzusetzen, in welchem Verhältnis sich das zeitgenössische Judentum zur Hebräischen Bibel, oder umgekehrt: der Gott der Hebräischen Bibel nicht nur zum biblischen Israel, sondern auch zu den Juden befand.

Es ging dabei um nichts Geringeres als um die »Wesensgleichheit zwischen vor- und nach-exilischer Religion des Judentums«, um »jene permanente Verflechtung der Gegenwart mit Vergangenheit und Zukunft«, mit anderen Worten: Es ging um die Frage der theologischen Existenzberechtigung des Judentums, die von 1914 bis 1918 und vor allem nach 1933 zur Frage nach der Existenzberechtigung des Judentums und der Juden überhaupt führen musste.

mOTTENKISTE Wenn also heute wieder ein Horst Mahler »unsere Kultur als Gegenentwurf gegen den Mosaismus« retten oder ein Wolfgang Gedeon in der »talmudischen Religion« das Ziel der »Versklavung des Restes der Menschheit« sieht und zu diesem Zwecke tief in die Mottenkiste nicht nur der antijüdischen (»Semantik der Thora«, »talmudische Religion«), sondern auch der antisemitischen Propaganda gegriffen wird (»die Bank in jüdischer Hand und das in talmudischer Weise«, »Versklavung«), so scheinen beide eine Situation von vor 100 Jahren wiederaufleben zu lassen.

Zwar ist das nicht tatsächlich der Fall, aber es wird nun an der deutschen, nicht-jüdischen Öffentlichkeit sein, darauf zu bestehen, dass diese Kultur der Hetze und des Hasses nicht das letzte Wort haben darf. Hier sollten vor allem die großen christlichen Kirchen eindeutig Stellung beziehen.

Denn nicht nur vor 100 Jahren war es gepflegte Sitte, das Alte Testament als minderwertig, ja sittlich verkommen darzustellen (wie das Gutachten von Kittel zeigt); vielmehr ist es heute in christlichen Kreisen durchaus wieder üblich geworden, ganze Passagen der Tora lieber nicht mehr zu lesen, weil die Inhalte mit unserem heutigen Gottes- und Menschenbild nicht mehr zu vereinbaren seien (Stichwort: Menschenrechte, europäische Werte). Von diesem Nicht-mehr-lesen-Wollen ist es kein allzu großer Schritt, auch die Leser einer solchen Schrift für antimodern und minderwertig zu halten.

Es ist nichts Neues: Der Verweis auf den Edelmut und die Sittlichkeit war schon immer ein scharfes Schwert im Kampf gegen gesellschaftliche und religiöse Minderheiten. Vielleicht haben die neuen antisemitischen Pamphlete wenigstens diese Wirkung, dass das intellektuelle Religions-Bashing nicht mehr zur Auszeichnung der Aufgeklärtheit der westlichen Welt gehört. Denn genau dieses Religions-Bashing üben die modernen Antisemiten mit Bravour.

Die Autorin lehrt als Professorin an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg.

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