Es wird oft gesagt, dass es nicht zu den Aufgaben eines Rabbiners
gehört, sich in politische Fragen einzumischen. »Bleibt bei der
Religion«, heißt es, »lasst die Finger von der Politik!« Offensichtlich glauben viele Menschen, religiöse Führer sollten apolitisch sein. Natürlich sollten Rabbiner kein politisches Ziel verfolgen, sei es aus politischer Überzeugung oder um das Programm einer Partei zu unterstützen. Das heißt aber noch lange nicht, dass Rabbiner Angst davor haben müssen, sich zu Themen zu äußern, die in die politische Sphäre hineinwirken.
Auftrag In der Tora fand Moses die richtige Balance. G’tt erscheint vor Moses in der Gestalt eines brennenden Dornbuschs und heißt ihn, einen politischen Auftrag zu erfüllen. »Und jetzt geh! Ich sende dich zum Pharao. Führe mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten heraus«, sagt G’tt zu Moses. Und Moses antwortet: »Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehen und die Israeliten aus Ägypten herausführen könnte?« Was für eine Frage ist das? Die Tatsache, dass G’tt ihn für die Mission ausgewählt hat, zeigt eindeutig, dass er die richtige Person für den Job ist. G’tt überzeugt Moses und versichert ihm, Er werde mit ihm sein. Dennoch bleibt Moses skeptisch: »Was aber, wenn sie mir nicht glauben und nicht auf mich hören, sondern sagen: G’tt ist dir nicht erschienen?« An dieser Stelle wird deutlich, was Moses tatsächlich befürchtet: Weil die Kinder Israels nicht glauben, dass G’tt in die Politik eingreift, werden sie einen Mann G’ttes, der behauptet, eine g’ttliche Botschaft mit politischen Auswirkungen zu haben, einfach ignorieren. Um dem entgegenzuwirken, erlaubte G’tt Moses, Wunder zu wirken, die den Beweis erbrachten, dass er tatsächlich der Träger einer authentischen g’ttlichen Botschaft war.
Politik Vor Kurzem wurde ich gefragt, ob ich das Recht auf Abtreibung befürworte oder nicht. Häufig hängt die Antwort auf diese Frage davon ab, wo man politisch steht. Meine Antwort aber bezieht sich zwar auf die politische Frage, hat aber mit Politik selbst nichts zu tun. Die Tora betrachtet das menschliche Leben als etwas von unendlichem Wert. So verbietet das biblische Gesetz die Abtreibung, ausgenommen jene Fälle, in denen das Leben der Mutter in Gefahr ist. Gemäß der Tora erlaubt G’tt den Menschen nicht, eine solche Entscheidung zu treffen. Zur gleichen Zeit bedeutet das aber nicht, dass ich will, dass Politiker über die menschliche Moral bestimmen. Wir vergessen, dass die Tora mehr ist als ein Fahrplan für geistige Aufklärung: Sie ist ein g’ttliches Handbuch für die Menschheit, das sich mit beinahe jeder ethischen Frage befasst, die sich der Menschheit stellt.
Hier in den Vereinigten Staaten wurde im August 2009 die Berufung von Sonia Sotomayor als Oberste Richterin vom Senat bestätigt. Während der Befragung schälte sich ein zentrales Thema heraus: Die Aufgabe der Richter ist es, die Gesetze auszulegen, nicht die Gesetze zu machen. In einem Urteil müssen alle persönlichen Überzeugungen und Vorurteile zur Seite geschoben werden, um eine objektive Auslegung des Gesetzes zu
garantieren. In den Worten von Richterin Sotomayor: »Ich kann nur erklären, was ein Richter meiner Meinung nach tun sollte. Richter dürfen sich nicht darauf verlassen, was ihnen das Herz sagt. Sie verabschieden die Gesetze nicht. Der US-Kongress verabschiedet die Gesetze. Die Aufgabe eines Richters besteht darin, das Gesetz anzuwenden.«
Meinung Ganz ähnlich ist es, wenn religiöse Führer sich zu einem aktuellen politischen Thema äußern. Sie müssen ihre persönlichen politischen Vorlieben zur Seite schieben und eine Meinung abgeben, die auf einer ehrlichen und sachlichen Auslegung der biblischen Gesetzgebung basiert, betrachtet durch das Prisma einer tausende Jahre alten Tradition. Wenn Rabbiner das nicht tun, erfüllen sie nicht nur ihre Aufgabe nicht, sondern neigen auch dazu, lustlos und geistlos zu sein, und darüber werden sich die Leute beklagen.
Seitdem Moses von G’tt berufen wurde, in die Politik einzugreifen, um die Lage seines Volkes zum Besseren zu wenden, fällt den religiösen Führern die zwingende Aufgabe zu, das Wort G’ttes zu verbreiten, ohne Angst davor zu haben, was wohl die Leute sagen werden. Ganz gleich, zu welchem Thema – der Friedensprozess im Nahen Osten, Irans nukleare Bestrebungen oder ethische und moralische Streitfragen zu Hause –, Rabbiner und religiöse Führer tragen die Verantwortung, zu sprechen und den Menschen die Ansichten mitzuteilen, die sie aus dem intensiven Studium der g’ttlich inspirierten Texte gewonnen haben.
Trennung Ich bin kein Befürworter einer theokratischen Regierungsform. In der Tat ist die Trennung von Kirche und Staat unerlässlich und muss unter allen Umständen verteidigt werden. Auch sollten religiöse Führer keine Politiker werden; die Geschichte lehrt uns, welche unheilvollen Folgen es hat, wenn Einzelne die Macht erhalten, allen anderen ihre religiösen Ansichten aufzuzwingen.
Doch weil die Tora zu jedem Thema viel zu nsagen hat, ist es die Aufgabe eines jeden verantwortungsbewussten religiösen Führers, seine Meinung öffentlich kundzutun. Nur so hat die öffentlichkeit die Möglichkeit, diese Meinung zu akzeptieren oder sie abzulehnen.