Und Haschem rief Mosche und redete zu ihm vom Zelt der Zusammenkunft: ›Sprich zu den Kindern Israels und sage ihnen, wenn ein Mensch von euch G’tt ein Opfer bringt, dann sollt ihr Euer Opfer vom Haustier, Groß- und Kleinvieh bringen‹» (3. Buch Moses 1, 1-2). Von diesem einführenden Satz des Buches Wajikra zieht Raschi einen Vergleich mit dem ersten Menschen: Adam opferte nichts, das er entwendet hatte, da ja alles ihm gehörte. So sollst auch du nichts unrechtmäßig Erworbenes bringen.
Rabbiner Avigdor Miller bemerkt hierzu, dass dies eine etwas obskure Quelle für das Verbot, ein gestohlenes Tier als Opfer zu bringen, zu sein scheint. Der Standpunkt der Tora hätte viel offensichtlicher abgeleitet werden können, möglicherweise ähnlich wie im Fall einer entsprechenden Auslegung des Verses bezüglich der Vorschriften für den Feststrauß zum Laubhüttenfest, Sukkot (3. Buch Moses 23, 40). Die zu verwendenden Arten müssen gesetzmäßig erworben sein.
Raschi erklärt in direkter Anlehnung an diesen Text, dass die Anweisung aus diesem Grund lautet «und ihr sollt für euch nehmen». Die Arten sollen also im rechtmäßigen Besitz eines Menschen sein. Warum konnte eine ähnliche Formulierung nicht auch bei den Opfern verwendet werden? Wäre dies nicht eine klarere Quelle für das Verbot?
Gedanken Der Vergleich mit Adam ergänzt die Aussage der Tora um einen weiteren Aspekt: Es wird nicht nur das tatsächlich entwendete Eigentum untersagt, sondern auch der Diebstahl, den man in Gedanken begeht. Die Integrität, die die Tora vom Menschen erwartet, schließt selbst die unergründlichen Geheimnisse seiner Gedanken, Motivationen und Absichten ein.
Eine Begebenheit mit einem Weisen des Talmuds illustriert dies: Der berühmte Raw Safra wurde von einem Nichtjuden, der sich für die von ihm zum Verkauf angebotenen Waren interessierte, angesprochen. Der Rabbi war gerade dabei, das Schma zu sagen, sodass er seine Zustimmung zu dem Geschäft nicht signalisieren konnte. Obwohl der Mann, um den vermeintlich zögernden Rabbiner zum Verkauf zu bewegen, sein Angebot um ein Vielfaches erhöht hatte, erhielt er die Ware nach Beendigung des Schma zu dem ihm ursprünglich genannten Preis. Raw Safra weigerte sich, aus dem Missverständnis des Käufers einen Vorteil zu ziehen. In Gedanken hatte der Raw dem ersten Preis zugestimmt und blieb diesem Entschluss unter allen Herausforderungen treu (Sche’iltos deRabbi Achai, 36).
Es ist die Verpflichtung zu vollkommener Integrität im Denken und Handeln, die der Vergleich mit Adam unterstreicht. So wie der erste Mensch nicht einmal die Möglichkeit zum Diebstahl besaß, da die gesamte Welt ja ihm gehörte, so sollte uns der bloße Gedanke an die Entwendung fremden Eigentums auch vollkommen abwegig sein.
Emuna Rabbi Menachem Recanti erklärt in seinem Kommentar zur Tora (2. Buch Moses 20,14), dass die Übertretung des Verbots, fremden Besitz zu begehren, auf mangelnde Emuna – Glauben oder G’ttesbewusstsein – zurückzuführen sei. Er zitiert aus dem Gebet zu Schawuot, dem Wochenfest: «In dem Verbot, fremdes Eigentum zu begehren, sind alle Gebote enthalten». In den Psalmen heißt es wiederum: «Alle deine Gebote sind Emuna» (Tehilim 119,86). Worin liegt aber die Verbindung zwischen Emuna und der Beschränkung auf den eigenen Besitz, welche beide wiederum die gesamte Tora beinhalten?
Rabbiner Elijahu Elieser Dessler erklärt, dass ein jeder Mensch in seinem Wesen einzigartig ist und eine damit verbundene Aufgabe hat, die zu erfüllen er geboren wurde. Seine menschlichen Stärken und Schwächen, Talente und Neigungen, seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten und letztendlich auch sein materieller Besitz sind die ihm gegebenen Instrumente zur Erfüllung seiner persönlichen Bestimmung.
Die Gaben eines anderen Menschen sind die Mittel zur Arbeit an einer grundverschiedenen Aufgabenstellung und somit für ihn vollkommen ungeeignet. Den Besitz eines anderen Menschen zu begehren, wäre, als würde der Arzt die Säge des Tischlers und jener das Skalpell des Chirurgen begehren. Die einem Menschen gegebenen Mittel sind genau auf die von ihm zu verrichtende Arbeit abgestimmt.
Wir mögen die Aufgabe und die zu ihrer Erfüllung gegebenen Werkzeuge eines anderen Menschen wohl bewundern, sie uns aber selbst zu wünschen, wäre vollkommen abwegig. Ein Schüler von Rabbiner Jisrael Lipkin von Salant schüttete einmal seinem Lehrer das Herz aus: «Ich wünschte, ich könnte G’tt mit dem Verstand und dem Herzen unserer großen Weisen dienen.» Daraufhin erwiderte ihm sein Lehrer: «Ja, aber mit deinem Verstand und mit deinem Herzen.»
Dieses Verständnis liegt tief in dem Bewusstsein verankert, dass G’tt nicht nur der Schöpfer aller Dinge und ihrer Wesensart ist, sondern auch alle ihre Geschicke im Einzelnen lenkt. Das Verbot, fremdes Eigentum zu begehren, wird somit zum Prüfstein der Emuna eines Menschen und zum Fundament aller Gebote. Wer sich in Gedanken am Besitz anderer vergreift, berührt nicht nur die Integrität eines Menschen, sondern darüber hinaus auch seine Beziehung zu G’tt. Wenn jede Art von Diebstahl dem Geist der Tora vollkommen entgegensteht, gilt dies um so mehr in Verbindung mit Opfern.
Werkzeuge Indem der Mensch sich seiner Einzigartigkeit und der damit verbundenen Aufgabe bewusst wird, verändert sich jedoch nicht nur sein Verhältnis zum Eigentum anderer Menschen, sondern auch zu seinem eigenen Besitz. Die ihm anvertrauten Dinge sind nun Werkzeuge zur Erfüllung einer heiligen Arbeit im Dienste G’ttes. Er geht mit ihnen sorgsam und verantwortungsvoll um und erkennt in ihnen die besondere Aufmerksamkeit und persönliche Zuneigung des Ewigen.
Im Umkehrschluss kann das genaue Betrachten der zur Verfügung stehenden Ressourcen Aufschluss über den Sinn des eigenen Daseins geben. Die Werkzeuge entsprechen der Arbeit. Die eigenen Fähigkeiten lassen auf die persönliche Aufgabe schließen. Zu berücksichtigen sind ebenso der Ort und die Zeit, in die man hineingeboren wurde, denn auch sie gehören zum größeren Zusammenhang, in dem der Mensch seine geistige Vollendung erreicht.
Der Autor ist Mitglied des Edgware Kollel in London.