Allein die Frage, ob ich diesen Artikel überhaupt schreiben darf, ist nicht leicht zu beantworten. Wir können die Anwesenheit G’ttes in der Welt beobachten und uns erklären. Ist Er gnädig oder nachtragend, offenbart Er sich als barmherziger Vater oder als strenger Kämpfer?
All das dürfen wir besprechen. Letztendlich sind wir auf der Suche nach Ihm und bemüht, uns Seiner Regierungsart anzupassen. Wir dürfen aber auf keinen Fall von Ihm selbst sprechen. Er ist jenseits jeglicher Erreichbarkeit. Er ist kein Mensch und auch keinem Geschöpf der Welt ähnlich, niemanden können wir mit Ihm vergleichen. Aber die Propheten haben viel mehr gesehen und verstanden als wir.
TABU Jecheskel (Kapitel 1), Jeschajahu (Kapitel 6) und Mosche am Berg Sinai sind Haschem insoweit begegnet, dass sie Ihm sehr nahe gekommen sind. Was können wir daraus lernen? Bevor wir es versuchen, es uns zu erklären, bemerken wir, dass unsere Quellen diese Stelle tabuisieren.
»Man darf die Offenbarung G’ttes, die Jecheskel gesehen hat, die sogenannte ›Maasse Merkawa‹, nur einem einzigen Schüler vermitteln, und nur in dem Fall, wenn er klug genug ist, dass er es selbst zu verstehen imstande ist« (Mischna, Chagiga, 2,1) und »damit er nicht dazu noch Fragen stellt« (Raschi).
Auf dieser Vorsicht beruht eine Beschränkung der Möglichkeit, dieses Kapitel zu lernen. Insofern, dass wir es laut Rabbi Elieser nicht als Haftara lesen sollen, damit man keine Fragen dazu stellen kann. Wir folgen aber Rabbi Jehuda, der es erlaubt, daher kommt es bei uns am ersten Tag Schawuot als Haftara vor (Mischna, Megila 4,10, Megila 31a).
Hat Jecheskel Ihn wirklich gesehen? Obwohl es uns scheint, dass das, was er dort gesehen hat, tatsächlich G’tt war und Er so außergewöhnlich ist, versucht die Gemara, unsere Bewunderung zu reduzieren. Wir sollen wissen, dass alles, was Jecheskel dort gesehen hat, auch der Prophet Jeschajahu sah.
PROPHETENVERGLEICH Jecheskel wird mit einem Dorfbewohner verglichen, der begeistert ist, wenn die Kutsche des Königs an ihm vorbeifährt. Im Gegenteil dazu ist Jeschajahu mit einen Einwohner der Königsstadt zu vergleichen, der es gewohnt ist, den König in seinem Palast zu sehen (Rawa zu Chagiga 13b).
Das bedeutet aber auch: Die Regierungsart im Exil ist ganz anders als in Eretz Israel. Die Nähe des Königs zu seinen Bürgern ist unterschiedlich. Solange das Volk in Israel ist, sieht Jeschajahu eine Regierung, die die Nähe zum Volk sucht und sich persönlich um dessen Bedürfnisse kümmert.
Jecheskel befindet sich im Exil, in Babylon (1,1). Da existiert keine direkte Weisung der Regierung mehr. Dorthin kommen die Engel, um zu helfen (Malbim, Jecheskel 1,4).
EXIL Was sieht Jecheskel? Diese Zeit war sehr schwer für die Juden in Babylon. Die ersten Exiljahre wurden von großen Fragen begleitet: Warum sind wir hierhergekommen? Was wird aus unserem Tempel? Schaffen wir es, einen neuen zu bauen? Wer überhaupt sind die Babylonier, die uns besiegt und ins Exil gebracht haben, wieso konnten sie uns besiegen? Ein stürmischer Wind, eine große Wolke und Feuer, sich ineinander schlingend, kommen von Norden (1,4). Zu welchem Zweck?
Die Situation ist paradox. Unser Schicksal ist schon entschieden, wir bleiben für eine Zeit lang im Exil. Damit sich aber die Völker nicht wundern, warum die Babylonier, die damals gar nicht so wichtig waren, uns beherrscht haben, stärkt Er unsere Feinde, um uns zu ehren (Chagiga 13b). Allerdings sind die Feinde auf dem Weg, um unser Land zu vernichten.
Das tut weh und bringt unsere Zukunft in Gefahr. Wie werden wir wieder in die Heimat, nach Israel, zurückkehren? Genau das erklärt diese Prophezeiung. Jecheskel ist im Exil, er sieht aber die Möglichkeit, dass es zu Ende geht (Radak 1). Haschem ist weiterhin mit uns, und die Zeit der Erlösung wird noch kommen.
ERLÖSUNG Zu Schawuot, wenn wir von der Offenbarung Haschems an Mosche und das Volk hören, haben die Weisen nach einer passenden Haftara gesucht, die bewegend für uns ist und sehr viel für unsere Verbindung mit Haschem bedeutet. Die starke Verbindung zur Tora ist das, was uns die Erlösung schneller bringen soll. Diese Prophezeiung des Jecheskel wurde 30 Jahre, nachdem Chilkija die Torarolle wiedergefunden und dem Volk vorgelesen hatte, gesprochen (Melachim 2,22,11).
»Gesegnet sei G’ttes Ehre, dort, wo Er ist« (3,12). Diese bewegenden, positiven und absoluten Worte beenden die Prophezeiung und auch die Haftara. Man könnte meinen, dass mit unserem Exil auch G’ttes Ehre und Anwesenheit verschwunden seien. Jecheskel kommt aber zu der tiefen Erkenntnis, dass das jüdische Volk zwar durch seine Fehler nicht mehr nah an seiner Heimat und dem Tempel ist, sich aber dafür schämt. Gleichzeitig soll es sich Mühe geben, um dorthin im besten Zustand zurückzukehren.
Bei Haschem hat sich aber nichts verändert. Er sucht weiter unsere Nähe und wartet darauf, dass wir durch das Annehmen und Lernen der Tora zu Ihm zurückkommen werden (Mtzudat David).
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).