Dieser Tage wird ein neues Europäisches Parlament gewählt. Bevor ich ausführlich darauf eingehe, was diese Abstimmung für uns Juden bedeutet, möchte ich meiner Argumentation ein Zitat von Rabbiner Chanina aus dem Talmud (Sprüche der Väter 3,2) voranstellen: »Bete beständig für das Wohlergehen der Regierung! Wenn die Ehrfurcht vor der Regierung verschwände, würde eine Person eine andere lebendig verschlingen.«
Dies ist auch ein religiöses Thema, denn ohne Respekt vor der weltlichen Regierung gibt es keinen Respekt vor G’tt. Durch das Gebet für den Staat (»Hanoten teschua«) und für eine Regierung aus Fleisch und Blut gewinnt man auch größeren Respekt vor dem Höchsten Wesen, dem König der Könige.
kritik Damit komme ich zurück auf meinen Ausgangspunkt: Das Europäische Parlament wird von einer halben Milliarde Europäern gewählt. Bei aller Kritik stehen die meisten Deutschen der Europäischen Union positiv gegenüber: 77 Prozent der Deutschen wollen laut einer Umfrage in der EU bleiben – also weit und breit kein »Dexit« in Sicht. Die Deutschen sehen in der EU-Mitgliedschaft konkrete wirtschaftliche Vorteile. Außerdem leistet die Europäische Union in den Augen vieler Deutscher einen wichtigen Beitrag zur Sicherheit in Europa.
Doch aus jüdischer Sicht gibt es derzeit vor allem eine große Sorge: Selbst innerhalb Europas müssen wir derzeit für das Recht kämpfen, unseren Glauben zu praktizieren – die Stichworte sind Schechita und Brit Mila.
Selbst innerhalb Europas müssen wir für das Recht kämpfen, unseren Glauben zu praktizieren.
Immer mehr europäische Länder ernennen Sonderbeauftragte für Religions- und Glaubensfreiheit. Auch Deutschland hat im vergangenen April mit Markus Grübel einen Sonderbeauftragten für weltweite Religionsfreiheit ernannt.
Druck Wir leben in einer freien Demokratie, aber die Freiheit, unsere Religion zu leben oder unsere Religion zu ändern, steht zunehmend unter Druck. Und in weiten Teilen der Welt ist Religionsfreiheit keineswegs eine Selbstverständlichkeit.
Um gegenzusteuern, könnte sich die EU bei Regierungen islamisch geprägter Länder dafür einsetzen, dass Sanktionen für Apostasie und Konversion aus dem Strafrecht gestrichen werden. Die EU sollte keinen Handel mit Ländern fördern, in denen andere Überzeugungen nicht respektiert werden. Außerdem sollte die EU auch auf die Anerkennung des Völkermords an Minderheiten anderer Glaubensrichtungen im Nahen Osten dringen.
Dass dies immer noch ein dringendes Problem ist, geht aus dem Fall Asia Bibi hervor – einer Pakistanerin, die 2010 wegen »Blasphemie« in ihrem Land zum Tode verurteilt und erst im November 2018 freigesprochen wurde. Anfang Mai dieses Jahres konnte sie nach Kanada ausreisen.
Juden und Christen werden in zahlreichen Ländern wegen ihrer Religion verfolgt. Etwa 200 Millionen Christen weltweit leben in Bedrängnis, weil sie anders glauben als ihre Umgebung. Unsere Stimme gilt denen, die Religionsfreiheit ganz oben auf die europäische politische Agenda setzen.
Rechtsparteien Meinungsumfragen zufolge dürfte die radikale Rechte bei den anstehenden Europawahlen einen großen Sieg erringen. Heißt das, dass sie nach den Wahlen tatsächlich bedeutenden politischen Einfluss geltend machen kann? Die betreffenden Parteien stehen der EU äußerst kritisch gegenüber. Sie machen sich auch gegen Einwanderung stark.
Müssen wir uns jetzt Sorgen machen und unsere Koffer packen? Nein. Führen wir uns lieber vor Augen: Die radikale Rechte ist im Grunde gespalten. Um die italienische Lega von Parteichef und Innenminister Matteo Salvini formiert sich zwar die EAPN (Europäische Allianz der Menschen und Nationen), der sich auch die deutsche AfD anschließen will – geplant ist eine gemeinsame länderübergreifende Fraktion im EU-Parlament.
Wir können das Gebet für das Wohl unserer Regierung jetzt auf ganz Europa ausweiten.
Doch andere Parteien bleiben außerhalb der EAPN. Die radikale Rechte könnte mehr Sitze bekommen, aber aufgrund ihrer Spaltung wird sie in der kommenden Wahlperiode voraussichtlich nur einen begrenzten Einfluss auf das neue Europäische Parlament haben. Trotzdem werden wir die Entwicklungen natürlich äußerst kritisch verfolgen.
Um auf den Anfang zurückzukommen: Wir beten jede Woche in der Synagoge für das Wohlergehen der Regierung, des Staates und aller Menschen in unserem Land.
gebet Der sefardische Oberrabbiner Israels, Schlomo Amar, sieht die Segen des Patriarchen Jakow für den ägyptischen Pharao (1. Buch Mose 47,7) als Grundlage für das moderne Gebet für das Wohl der Regierung. Dieses Gebet können wir jetzt auf ganz Europa ausweiten, auch im Sinne der Aussagen des Propheten Jeremia (645–587 v.d.Z.) und des Tannaiten Rabbi Chanina (1. Jahrhundert n.d.Z).
Auf die auch in unseren Gemeinden und Synagogen immer wieder gestellte Frage »Sollen wir an den Wahlen teilnehmen?« lautet meine Antwort: »Ja, natürlich!« Wir Juden engagieren uns leidenschaftlich für das Wohlergehen unseres Landes und damit auch des europäischen Kontinents.
Die jüdische Bevölkerung hat überall in Europa lange für Bürgerrechte kämpfen müssen. Wer kann sich heute, in einem so wichtigen Moment, freiwillig einer Wahl entziehen, deren Ergebnis unser jüdisches Leben stark beeinflussen könnte?
Der Autor ist Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, Dajan beim Europäischen Beit Din und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).