Armeedienst

Beten oder schießen?

Seit 1999 gibt es in der israelischen Armee bereits ein Bataillon für orthodoxe Juden. Foto: Flash 90

Keine halbe Stunde dauert der Fußweg zwischen Lischkat HaGiyus, dem Rekrutierungsbüro der israelischen Armee in Jerusalem, und der Jeschiwat Mir, der mit 9000 Studenten größten Talmudschule der Welt. Und doch scheinen beide Tore zu einer eigenen Welt zu sein – zwischen denen sich ein unsichtbarer Abgrund auftut.

In Israel leben Chilonim, Dati Leumi und Charedim, also Säkulare, Nationalreligiöse und streng Orthodoxe, auf engstem Raum zusammen. Die Debatte um die Armeepflicht für Jeschiwa-Studenten aus den charedischen Gemeinden ist seit Jahrzehnten eine der größten Belastungen für die ohnehin komplizierte Symbiose zwischen den verschiedenen Schichten des jüdischen Volkes in Israel.

Seit der Gründung des jüdischen Staates im Jahr 1948 befindet sich Israel entweder im aktiven oder passiven Kriegszustand und ist daher auf eine starke und hoch qualifizierte Armee angewiesen. In Israel gilt die allgemeine Wehrpflicht. 2023 dienten circa 170.000 Soldaten und Soldatinnen im aktiven Dienst. Etwa eine halbe Million Israelis sind Reservisten.

Für jüdische Männer und Drusen ist der dreijährige Wehrdienst obligatorisch, andere Minderheiten wie die Negev-Beduinen oder arabische Israelis können sich freiwillig zum Dienst melden (für viele von ihnen ist der Wehrdienst eine Selbstverständlichkeit).

Schon 1948 wurden Jeschiwa-Studenten vom Armeedienst befreit

Doch von Anfang an gab es Ausnahmen. Bereits zwei Monate vor der Staatsgründung, im März 1948, verkündete Jisrael Galili, Oberbefehlshaber der Hagana, aus der später die israelische Armee (IDF) hervorging, dass Jeschiwa-Studenten vorübergehend vom Militärdienst befreit seien. 1951 schrieb Premierminister David Ben Gurion zum ersten Mal in einem offiziellen Brief an das Verteidigungsministerium und den Generalstabschef: »Auf der Grundlage von Artikel 12 des Verteidigungsdienstgesetzes habe ich Jeschiwa-Studenten vom Militärdienst befreit. Sollten Jeschiwa-Studenten außerhalb ihres Studienortes angetroffen werden, auch wenn sie sich in irgendeiner Mission befinden, muss die Militärpolizei diese Studenten verhaften.«

Diese Entscheidung geht auf ein Abkommen zwischen der israelischen Regierung und der Agudat Jisrael, der politischen Vertretung aschkenasischer charedischer Juden unter Führung von Yitzhak-Meir Levin (1893–1971), zurück und zielte auf die Festigung eines säkular-religiösen Status quo. Damit ist das Bemühen David Ben Gurions gemeint, noch vor der Staatsgründung Israels trotz der jüdisch-säkularen Verfassung und Kultur des zukünftigen Staates das friedliche Zusammenleben polarisierter Bevölkerungsgruppen auf engstem Raum durch die Einigung auf jüdische Grundwerte zu gewährleisten.
Diese Vereinbarung wurde in den folgenden Jahren unter dem Begriff »Torato Umanuto« (wörtlich: Tora als Hauptbeschäftigung) offiziell eingeführt und galt jahrzehntelang.

Ben Gurion befreite einst 400
Jeschiwa-Studenten von der Wehrpflicht.

Mit dem rasanten Bevölkerungswachstum in Israel und der damit verbundenen Zunahme der Zahl der Jeschiwa-Studenten wuchs die Unzufriedenheit auf politischer und gesellschaftlicher Ebene. Während zu Zeiten Ben Gurions die Vereinbarung etwa 400 Studenten vom Wehrdienst befreite, waren es kurz vor der Jahrhundertwende bereits mehrere Zehntausend.

Zudem entschied der Oberste Gerichtshof Israels 1998, dass das israelische Verteidigungsministerium nicht befugt sei, über die Befreiung orthodoxer Jeschiwa-Studenten vom Militärdienst zu entscheiden, und forderte die israelische Regierung auf, sich mit dieser Frage zu befasse
Am 22. August 1999 wurde das »Tal-Komitee« gegründet, benannt nach dem ehemaligen Richter am Obersten Gerichtshof Tzvi Tal, und vom damaligen Ministerpräsidenten Ehud Barak einberufen. Dieses Komitee sollte der Regierung eine Lösung für das politische und soziale Dilemma vorschlagen. Im selben Jahr wurde auch »Netzach Yehuda«, ein Bataillon für orthodoxe Juden, gegründet. Das Bataillon bestand anfangs aus nur 30 Soldaten, war aber zeitweise (2012) mit 700 Soldaten das größte Bataillon der israelischen Armee.

Das Tal-Gesetz sah ein Entschiedungsjahr vor

Im Jahr 2002 legte das Komitee seinen Vorschlag der Regierung vor, die mit 51 zu 41 Stimmen für die Einführung des »Gesetzes über die Aufschiebung des Militärdienstes für Jeschiwa-Studenten«, auch »Tal-Gesetz« genannt, stimmte. Demnach können Jeschiwa-Studenten bis zum Alter von 22 Jahren den Armeedienst jährlich um ein Jahr verschieben, wenn sie nachweisen, dass sie mindestens 45 Stunden pro Woche ausschließlich dem Torastudium widmen. Danach bekommen sie ein »Entscheidungsjahr«, um zwischen einem 16-monatigen Armeedienst oder einem zwölfmonatigen unbezahlten Zivildienst zu wählen.

Im Jahr 2006 äußerte sich der Oberste Gerichtshof, dass das »Tal-Gesetz« rechtlich problematisch sei und sich keine Veränderung des Anteils der Jeschiwa-Studenten in der Armee erkennen lasse. 2012 entschied der Oberste Gerichtshof endgültig, dass das »Tal-Gesetz« gegen die israelische Verfassung verstößt, und forderte die Regierung (erneut) auf, eine Lösung zu finden.

Am 24. Juni 2024 schließlich verkündete der Oberste Gerichtshof, dass es keine Befreiung für Jeschiwa-Studenten geben darf und die IDF damit beginnen solle, sie zu rekrutieren. In Israel war diese Nachricht ein Paukenschlag und löste teils dramatische Reaktionen aus.
Unter den orthodoxen Rabbinern gab es von vornherein unterschiedliche Haltungen zum »Tal-Gesetz«. Während zahlreiche prominente Rabbiner und Raschei Jeschiwa (Leiter von Talmudhochschulen), darunter Rabbi Aharon Leib Steinman und Rabbi Yosef Schalom Elyashiv, das »Tal-Gesetz« unterstützten, gab es auch Stimmen, darunter Rabbi Moshe Shmuel Shapiro, einer der prominentesten Raschei Jeschiwa, die weiterhin die bedingungslose Befreiung der Jeschiwa-Studenten forderten. Letzterer verließ demonstrativ den Moetzet Gedolei HaTora (Rat der Toragelehrten), weil er mit dessen Konsens nicht einverstanden war.

Warum aber sollten Jeschiwa-Studenten vom Militärdienst befreit werden? Auf den ersten Blick scheint der Aufschrei nach Gleichberechtigung seitens der verpflichteten Bevölkerungsmehrheit berechtigt.

Schon die Tora erzählt von jüdischen Soldaten

Seit dem Auszug aus Ägypten verfügt das jüdische Volk über eine Armee. Die Tora erzählt, wie sie in der Wüste von Amalek angegriffen wurden und nur durch das Gebet von Mosche (siehe Raschi) diesen erbitterten Feind besiegen konnten. Auch bei den späteren Kriegen während der Wüstenwanderung, so der Midrasch, gab es spirituelle Unterstützung für die Soldaten in Form von Gebet und Torastudium.

So interpretiert der Midrasch (Bamidbar Rabba 22,2) den Vers im 4. Buch Mose 31, 3–6, wie folgt: G’tt befahl Mosche, eine Armee für den Krieg gegen Midjan aufzustellen und neben 12.000 Soldaten (1000 aus jedem Stamm) weitere 12.000 »spirituelle Soldaten« zu rekrutieren, deren Aufgabe es sein sollte, für den Erfolg der Soldaten zu beten.

Dies sagte auch Rabbi Pessach Zvi Frank (1873–1960), Oberrabbiner von Jerusalem, während des Unabhängigkeitskrieges in Israel, basierend auf dem Talmud (Makkot 10a): »Jeder, der sich ganz dem Studium der Tora widmet, ist ein Soldat in der Armee G’ttes zur Verteidigung des jüdischen Volkes, und die Soldaten, die sich an der Front dem Feind entgegenstellen, werden durch den Verdienst der Tora-Studierenden geschützt.«
Das jüdische Volk unterscheidet sich von anderen Völkern dadurch, dass es einer übernatürlichen Führung durch G’tt untersteht. Im Rahmen dieser Führung ist ein Sieg nur möglich, wenn für die Sicherheit und den Erfolg der Soldaten auf dem Schlachtfeld gebetet wird.

Selbst zionistische Rabbiner argumentierten gegen die Wehrpflicht

Darüber hinaus geht aus verschiedenen Stellen des Talmuds hervor, dass es sogar verboten ist, Talmidei Chachamim (Toragelehrte) in die Armee einzuziehen.

Rabbiner Avraham Yitzchak Kook (1865–1935), der erste aschkenasische Oberrabbiner im britischen Mandatsgebiet Palästina, war während des Ersten Weltkriegs Rabbiner der Londoner Gemeinde Machzikei HaDaas und setzte sein Leben ein, um Jeschiwa-Studenten vom britischen Militärdienst zu befreien. In einem Brief an den Oberrabbiner des britischen Königreichs, Rabbi Joseph Herz (1872–1946), legte er unter Berufung auf zahlreiche Quellen dar, dass die Toragelehrten vom Militärdienst befreit werden müssten, und forderte Rabbi Herz auf, sich verstärkt dafür einzusetzen.

Heute geht es um mehrere Zehntausend Charedim, die in der Armee dienen sollen.

Er zitiert den Talmud (Sota 10a), wonach der judäische König Asa bestraft wurde, weil er Toragelehrte rekrutiert hatte. Nach einer Meinung im Talmud (Nedarim 32a) wurde auch Awraham bestraft, weil er jene in den Krieg mitnahm. Rabbiner Kook schreibt ausdrücklich, dass es dabei keinen Unterschied zwischen einem Verteidigungskrieg (Milchemet Mizwa) und einem Angriffskrieg (Milchemet Reschut) gibt. Es muss jedoch betont werden, dass von den Talmidei Chachamim, deren Gebete und Torastudium ihre Brüder an der physischen Front schützen, erwartet und verlangt wird, dass sie sich Tag und Nacht ganz dem Torastudium widmen, um ihre Pflicht gegenüber dem jüdischen Volk zu erfüllen.

Welche Rolle spielt die Pflicht, Leben zu retten?

Dies gilt jedoch nur, wenn die Armee über genügend Soldaten verfügt und die Befreiung der Lernenden nicht zu einer erhöhten Gefährdung der Soldaten führt. Ansonsten ist Rabbi Eliezer Waldenberg (1915–2006) in seinem Werk Hilchot Medina (Bd. 3, Siman 9, Abs. 1) in Anlehnung an den Rambam (Hilchot Schabbat 2,23) davon überzeugt, dass jeder seinen Beitrag leisten muss, da Pikuach Nefesch, die Rettung von Menschenleben, im Judentum oberste Priorität hat.
Ein weiteres Argument orthodoxer Jeschiwa-Studenten gegen den Dienst in der IDF ist, dass die Armee nicht in der Lage sei, eine aus orthodoxer Sicht angemessene Umgebung und Atmosphäre zu gewährleisten (zum Beispiel die Trennung von Männern und Frauen) und dass ihr spirituelles Niveau darunter leide.

Manche würden sogar behaupten, dass orthodoxe Soldaten bewusst säkularisiert werden. Jedenfalls gibt es Studien, die besagen, dass ein Fünftel der aus traditionellen Familien stammenden Soldaten den religiösen Lebensstil nach dem Militärdienst aufgibt, obwohl die meisten von ihnen im religiösen Bataillon Netzach Yehuda gedient haben
Diese Debatte wird seit Jahrzehnten geführt, und die Kluft zwischen den Lagern wird von Jahr zu Jahr größer. Ein Ende der Diskussion ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten.

Wir hoffen und beten, dass der Tag kommen wird, an dem keine Rekrutierungen mehr nötig sein werden und das jüdische Volk in Frieden im Heiligen Land leben kann. Aber vielleicht wird es uns schon vorher gelingen, eine Brücke zu bauen, die den Abgrund zwischen der Lischkat HaGiyus in Jerusalem und der Jeschiwat Mir überbrückt, und wir werden verstehen, dass das jüdische Volk über all die Jahre hinweg Seite an Seite jeder auf seine Weise gekämpft hat.

Der Autor ist Assistenz-Rabbiner der Gemeinde Kahal Adass Jisroel und Dozent am Rabbinerseminar zu Berlin.

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