Verbesserung, Veränderung, Zukunft: Das sind Worte, die für Hoffnung stehen. Hoffnung auf etwas Neues, das noch nicht da ist, Erwartung, dass unser Zustand anders und besser als der heutige sein wird.
Der Monat Aw, der dem jüdischen Kalender zufolge noch gut eine Woche andauert, ist von dieser Hoffnung geprägt.
Die ersten Tage des Monats waren bestimmt durch Trauer: Wir erinnerten an die Zerstörung der Jerusalemer Tempel und andere Tragödien. Der neunte Tag, Tischa beAw, ist ein Fasttag. Diesmal wurde er in Israel überschattet von der kriegerischen Auseinandersetzung mit der palästinensischen Terrororganisation Islamischer Dschihad im Gazastreifen.
trauer Aber auch ohne diese bedrohliche Situation sollte dieser Tag bei uns Spuren hinterlassen, markiert er doch immer wieder einen Tiefpunkt nach drei Wochen der Trauer. Trauer und Fasten sollten uns jedoch nicht nur drängen und quälen, uns nicht nur mit Geschichte und Vergangenheit verbinden. In erster Linie steht der Tag für die Herausforderung, etwas davon in die Zukunft mitzunehmen. Wir wünschen uns, die Gegenwart so zu verändern, dass sich die Ereignisse der Vergangenheit nicht wiederholen.
Hass aufeinander, Respektlosigkeit und Eitelkeit haben unseren gesellschaftlichen Frieden zerstört.
Hass aufeinander, Respektlosigkeit und Eitelkeit haben unseren gesellschaftlichen Frieden zerstört. Man entfernt sich voneinander und sieht nichts Wichtigeres als die eigene Person. Jedes Jahr hören und lesen wir von dieser Erkenntnis, am 9. Aw und in den drei Wochen zuvor, aber in der Woche darauf stolpern wir wieder in alte Muster zurück, wir sehen das »Ich« und nicht das »Wir«, das Trennende und nicht das Verbindende – obwohl man den 15. Aw zum Tag der Liebe erklärt hat. Die Persönlichkeit und Bedürfnisse des anderen werden ignoriert. Da braucht es Führungspersönlichkeiten, die uns den Weg weisen.
Doch viele Politiker sind uns in diesem Sinne längst keine Vorbilder mehr. Und ich schäme mich, es zu sagen, und noch mehr, es zu schreiben: Auch die Geistlichen verdienen leider Kritik. Nobody is perfect. Lehrreich ist aber folgende Erkenntnis: Wenn man mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf andere zeigt, weisen drei Finger der Hand auf einen selbst zurück – denn ich soll erst mich prüfen, bevor ich jemand anderen kritisiere.
Das hebräische Wort »Machloket« wird oft mit »Streit« übersetzt.
machloket An einem Streit nehmen Parteien teil, die unterschiedlicher Meinung sind, dem anderen etwas nicht gönnen oder dessen Rechte nicht akzeptieren. Machloket kommt von »Chelek« – ein Teil. Ein Machloket verfolgt nicht das Ziel, das Recht einer Seite zu beweisen, sondern vielmehr, das zu erreichen, was beide Seiten im Sinne ihrer Interessen für wichtiger erachten. Durch meine Argumente versuche ich, dem anderen zu erklären, warum ich diese oder jene Position einnehme; es gehört aber auch dazu, dass ich zuhöre. Sollten sich die Argumente des anderen als besser und richtiger erweisen, werde ich diese akzeptieren.
Wir sehen das »Ich« und nicht das »Wir«, das Trennende und nicht das Verbindende.
So sollte ein Machloket sein, der beiden Parteien hilft, ihre Gedanken und Ideen auszutauschen, durch Fragen und Diskussion einander zu prüfen und die Sicht zu schärfen, sodass wir am Ende etwas noch Besseres und Richtigeres entdecken.
Wir haben vieles gemeinsam. Auch wenn wir miteinander streiten und diskutieren, so sind wir am Ende alle nur Menschen. Essen, trinken, lieben, Fehler machen – all das ist zutiefst menschlich. Wie kommt es dann, dass wir nicht wissen, wie wir miteinander umzugehen haben? Nach außen hin suchen wir angeblich den Dialog, nach innen vergessen wir aber zu häufig, besser miteinander zu kommunizieren.
meinungsaustausch Das müssen wir ändern – in der Gesellschaft und in der Familie, in der Gemeinde und im Freundeskreis, im Privaten und in der Politik, im direkten Gespräch und beim Twittern und Posten. Meinungsaustausch ist gut und belebt. Meinungen müssen aber respektvoll ausgetauscht werden. Hass bringt Gewalt. Es ist völlig egal, welche Art von Gewalt es ist. Nicht nur physische Gewalt ist verabscheuungswürdig. Verbale Gewalt kann manchmal sogar noch verheerender sein. Wir nutzen Gewalt, wenn wir verstehen, dass wir keine andere Möglichkeit haben, Situationen zu bewältigen. Wir verletzen damit andere Menschen und bleiben im Streit, anstatt zum Verständnis zu kommen.
Unsere Weisen und die heutigen Gelehrten streiten häufig miteinander. Es heißt, dass sie den Frieden in der Welt vermehren. Was ist mit Frieden gemeint? Herrscht Frieden dann, wenn alle gleicher Meinung sind und ruhig bleiben? Eigentlich nicht. Frieden ist gerade dann, wenn es einen gesunden Austausch und eine gesunde Diskussionskultur, eine Machloket, gibt.
Wenn alle ihre Meinung zurücknehmen und gar nicht erst versuchen, die eigene und die Meinung der anderen zu prüfen und zu untersuchen, dann ist kein Frieden.
Wenn alle ihre Meinung zurücknehmen und gar nicht erst versuchen, die eigene und die Meinung der anderen zu prüfen und zu untersuchen, dann ist kein Frieden. Es herrscht Ruhe, bis Unruhe kommen wird. Wenn man aber diskutiert und versucht, die Wahrheit zu finden, entdeckt man Teile der Wahrheit, die man noch nicht gesehen hat, die aber andere gefunden haben. Auch Menschen, deren politische und religiöse Ansichten sehr weit auseinanderliegen, finden dadurch das Gute bei- und miteinander und können eine bessere und gesündere Diskussionskultur entwickeln.
Gemeinden und andere Gruppen, in Deutschland und weltweit, auch im jüdischen Staat, dessen Bevölkerung unglaublich vielfältig ist – religiös und säkular, rechts und links, jüdisch und nichtjüdisch –, brauchen mutige Menschen, die sich nach dem Trauertag des 9. Aw und dem 15. Aw, dem Tag der Liebe, für Austausch und Verständnis engagieren, um einander kennenzulernen und zuzuhören.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).