Entsinnen Sie sich eigentlich noch der furchtbaren Wochen vor Pessach – oder haben Sie das ganze Trauma inzwischen erfolgreich verdrängt? Erinnern Sie sich an blutunterlaufene, übernächtigte Augenpaare, die bei dem Wort »Sederabend« anfingen zu zucken? Oder daran, wie gepeinigte Ehemänner entmutigt von Koscher-Shop zu Koscher-Shop schleichen, in den Händen ellenlange Einkaufslisten mit schier unbezahlbaren Lebensmitteln? Haben Sie noch die Hausfrauen vor Augen, die kurz vor dem Kollaps standen, vor dem schleichenden Inferno? Machen Sie sich doch nichts vor: Die Wochen vor Pessach waren auch dieses Jahr ein totaler Albtraum.
amüsiert Es gibt nur eine Person, die sich in dieser schwierigen Zeit so richtig amüsiert hat – und das bin ich. Ich besuchte in dieser nervenzerrüttenden Zeit gerne mal einen Kiddusch – egal welchen – und zog dort meine fiese kleine Pessach-Show ab. Ein diebisches Vergnügen. Sollten Sie nächstes Jahr auch mal versuchen.
Und so geht’s: Man sucht sich ein Opfer aus, fixiert es starren Blickes, beißt dann angelegentlich in ein Thunfischsandwich und lässt folgende Worte fallen: »Fahrt ihr eigentlich diesmal weg zu Pessach?« Das Gegenüber zuckt unwillkürlich zusammen. »Nein, wir bleiben hier. Und ihr?«, stammelt der arme Kerl dann zwangsläufig und knetet nervös sein Lachssandwich in der Hand. »Tja. Wir werden Pessach woanders verbringen«, entgegnet man dann ganz nonchalant. »In einem koscheren Hotel.«
Aus den Augenwinkeln beobachtet man jetzt, wie sich der andere zusammenkrümmt, um dann waidwund den Ort des Geschehens zu verlassen. Auf dem Weg lässt er mit zitternden Fingern sein Brötchen hinter einer Topfpflanze verschwinden. Der Appetit ist ihm vergangen. Bingo!
Dann stolziert man weiter zum nächsten Kiddusch-Plausch und zum nächsten Opfer. Wie ich bereits sagte, ein herrlicher Spaß. Mein Ego, das sonst wie ein ausgelutschter Kaugummi platt und unauffällig auf dem Gehweg klebt, plustert sich in diesen Wochen zu ungeahnter monumentaler Größe auf – es fühlt sich fantastisch an. Endlich bin ich mal wer, denn ich fahre weg, und die anderen bleiben da. Es klingt einfach beneidenswert unerreichbar, Sederabend im koscheren Hotel. Dass es sich dabei in meinem Fall um ein abgelegenes Schwarzwaldkaff handelt, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen, muss ich ja keinem erzählen. Auch, dass es sich um einen beliebten Senioren-Hotspot handelt statt um einen begehrten Treffpunkt des Jetset, und dass auf den Straßen statt Nerzmänteln und Designerklamotten eher tristes Seniorenbeige vorherrscht, muss man ja niemandem auf die Nase binden.
Entlüftung Aber das Hotel! Ich habe mich vom ersten Augenblick an in dieses Etablissement verliebt – es ist das schönste Hotel der Welt. Ich liebe die leicht abgetretenen Teppiche in undefinierbaren Gemüsefarben, ich liebe den Garten, in den eine raffinierte Entlüftungsanlage stets die Essensgerüche aus der unterirdischen Küche trägt, sodass die meisten Gäste stets das Weite suchen – und ich ganz für mich allein sein kann.
Ich liebe die Tatsache, dass ich mein Hotelzimmer einfach offenlassen kann, denn ich kenne alle anderen Hotelgäste schon seit Jahren. Ein bunt gemischtes Häufchen meiner Kinder und der Kinder meiner Verwandten und Freunde wirbelt den ganzen Tag durchs Haus wie eine völlig überdrehte Windhose und lässt überall Bälle, Autos, Schnuller rumliegen, und niemand sagt was, alle sind nett und kinderlieb. Und abends um acht gehen dann alle Senioren schlafen. Ich auch. Nirgends schlafe ich so gut wie in diesem Hotel, das von säuselnden Tannen umgeben ist. Morgens werde ich von Mazzes-Chremsli- und Kaffeedüften geweckt, die vom Speisesaal durch das ganze Hotel streichen. Paradiesisch!
Haben Sie nicht eigentlich die Nase voll von Ihrer jährlich wiederkehrenden Inkarnation als Pessach-Wrack? Dann sehen wir uns ja vielleicht nächstes Jahr – im wundervollen Hotel »Zur Goldenen Joich« im charmant abgelegenen Schwarzwaldkaff.