Dewarim

Beherzt und mit Zuversicht

Mosche spricht in der Wüste zu den Israeliten (Illustration von Jim Padgett). Foto: Getty Images

Mancher Schabbat ist insofern außergewöhnlich, als er einen besonderen Namen trägt. Zu diesen wenigen im Jahr zählt der Schabbat vor dem Fastentag Tischa beAw, an dem stets der Wochenabschnitt Dewarim gelesen wird: »Schabbat Chason«.

Den Namen verleiht ihm die Haftara, der Prophetenabschnitt, der im Anschluss an die Toralesung vorgetragen wird und mit den ersten Worten des Buches Jeschajahu beginnt: »Chason Jeschajahu ben Amotz« – »Die Vision des Jeschajahu, Sohn des Amotz«. In ihnen wird der schlimme moralische und spirituelle Niedergang Jerusalems geschildert und die bevorstehende Zerstörung angedeutet. Gleichzeitig wird eindringlich gemahnt, die verwerflichen Wege zu verlassen und statt Unrecht Gerechtigkeit walten zu lassen.

Warum lesen wir an Tischa beAw nicht aus den Büchern von Propheten, die zur Zeit der Zerstörung lebten?

Doch Jeschajahu hat mehr als 100 Jahre vor der Zerstörung des Ersten Tempels gelebt, den wir unter anderem an Tischa beAw betrauern. Dies wirft die Frage auf, warum wir an diesem Trauertag nicht aus den Büchern von Propheten lesen, die selbst zur Zeit der Zerstörung gelebt haben, also direkte Augenzeugen waren. Sie schildern die Ereignisse, wie der Prophet Jirmijahu, aus dessen Prophetien beispielsweise das Klagelied Ejcha am Abend von Tischa beAw und andere Haftarot in den Wochen vor Tischa beAw verlesen werden.

Ja, Jeschajahu deutet die Ansätze der bevorstehenden Zerstörung prophetisch an: »Euer Land – eine Öde, eure Städte feuerverbrannt, euer Boden – vor euren Augen verzehren ihn Fremde, dass er eine Öde ist, wie Zerstörung durch Fremde. Und übrig bleibt Zion wie eine Hütte im Weinberg … wie eine belagerte Stadt« (1, 7–8).

Doch die Frage bleibt: Warum wird ausgerechnet an diesem prominenten Schabbat, der direkt mit dem Fastentag Tischa beAw in Verbindung steht, auf einen Propheten zurückgegriffen, der nur die anfängliche Entwicklung der Zerstörung beschreibt und nicht deren volles Ausmaß schildert?

Hierfür gilt es, das Wesen des Fasttages besser zu verstehen. Allgemein werden die Fastentage 17. Tamus und 9. Aw, welche die sogenannten drei Trauerwochen umrahmen, als Trauertage verstanden, als Tage des Erinnerns und Gedenkens an traurige Ereignisse wie etwa den Fall der Mauer von Jerusalem und die Zerstörung der Tempel (Mischna Taanit 4,6).

Maimonides, der Rambam (1135–1204), sieht in den Fasttagen eine völlig andere Bedeutung. In Hilchot Taanit 5,1 beschreibt er: »Es gibt Tage, an denen ganz Israel fastet, wegen der schlimmen Begebenheiten, die sich an ihnen ereigneten – um die Herzen aufzurütteln und die Wege der Umkehr zu eröffnen. Dies soll eine Erinnerung an unsere schlechten Taten und die Taten unserer Vorväter sein (…), die ihnen und uns diese Nöte bescherten. Denn mit dieser Erinnerung werden wir umkehren und es besser tun.« Es geht also nicht nur darum, sich an Vergangenes zu erinnern, an die schlimmen Ereignisse, die uns trafen, sondern vielmehr deren Grund und Ursache zu verstehen, um diese zu verbessern, mit Umkehr zu korrigieren und damit für eine bessere Zukunft zu sorgen.

Unrecht und unmoralisches Verhalten durchzogen damals Jerusalem

Deshalb ist Jeschajahu genau der richtige Prophet. Denn er deckte schon die Missstände auf, die schließlich lange nach seiner Zeit zur Zerstörung führen würden, von ihm aber bereits als deren Ursache erkannt wurden. Unrecht und unmoralisches Verhalten durchzogen damals Jerusalem und spiegeln sich in seinen mahnenden Worten wider. Hätte das Volk damals auf ihn gehört, hätte der Untergang verhindert werden können.

Dieser Ansatz ist auch in der Tora anzutreffen, in unserem Wochenabschnitt Dewarim, der ebenfalls stets vor dem Fastentag 9. Aw gelesen wird, und das nicht zufällig. Das Volk Israel steht kurz vor dem Eintritt ins Land Israel und wird vom großen Lehrer Mosche gemahnt, stets Recht und Gerechtigkeit walten zu lassen (5. Buch Mose 1, 9–16), direkt nach dem Aufruf: »Kommt und beerbt das Land!« (1,8). Demgegenüber konstatiert der Talmud: »Jerusalem wurde nur zerstört, weil ihm Menschen der Aufrichtigkeit abhandengekommen waren« (Schabbat 117b).

Eine weitere Ursache für das Fasten am 9. Aw kommt in der Parascha vor und ist der einzige angemahnte Sündenfall aus dem Rückblick auf die 40 Jahre der Wüstenwanderung, der schon in diesem Wochenabschnitt ausführlich geschildert wird (und nicht erst in den kommenden, wie die meisten anderen): der Vorfall der Kundschafter. Dieser ist der erste von fünf Vorfällen in der Mischna, der sich am 9. Aw ereignete.

Interessanterweise beschreibt die Rückblende eine völlig andere Perspektive als jene im vierten Buch der Tora, als sich die Geschichte tatsächlich ereignete. In unserem Wochenabschnitt wird das Volk als Ini­tiator für das Aussenden der Kundschafter dargestellt. Als die Kundschafter dann zurückkamen, sollen sie die Kunde von einem guten Land gebracht haben, aber das Volk verzweifelte (5. Buch Mose 1, 22–28). Ausgeblendet wird hierbei, dass die Kundschafter auch von der angsteinflößenden Bevölkerung des Landes berichteten und sogar eine Einschätzung abgaben, dass diese nicht zu besiegen sei (4. Buch Mose 13, 27–33). Warum wird dieser Teil nun knapp 40 Jahre später verschwiegen?

Wie es aussieht, möchte Mosche an diesem Punkt der Geschichte, kurz vor dem Einzug ins Land Israel, klarmachen, dass die Verantwortung nicht allein auf den Anführern wie etwa den Kundschaftern liegt, sondern vom Volk selbst zu tragen ist. Die Schuld lag nicht nur bei den Verführern, sondern auch bei den Verführten, die nicht den Mut fanden zu hinterfragen: »G’tt hat uns dieses Land versprochen und erfolgreich und mit großen himmlischen Zeichen hierhergeführt – wird Er uns jetzt scheitern lassen?«

Natürlich war die Herausforderung groß, doch nicht unmöglich! Denn die Kraft steckt im Volk, auch diese mit Zuversicht anzugehen und sie zu meistern, da G’tt doch dieses Vertrauen in die Israeliten setzte, warum sollten sie es sich selbst also nicht zutrauen?

Für etwas besonders Wertvolles ist ein Mensch bereit, auch große Risiken einzugehen

Darüber hinaus steht noch eine zentrale Frage im Mittelpunkt: wofür? Lohnt es sich, diese Herausforderung anzugehen? Für etwas besonders Wertvolles wie die Familie oder nahe Freunde ist ein Mensch bereit, auch große Risiken einzugehen und für sie mit Hingabe einzustehen. Ebenso sollte das Land Israel diesen zentralen wertvollen Platz einnehmen, einhergehend mit der Bereitschaft, sich mit Herz und ganzer Kraft für das Land einzusetzen.

Diese Botschaft galt nicht nur damals, sie begleitet uns seither jedes Jahr zum 9. Aw, an dem wir bedrückt feststellen müssen, dass er auch in diesem Jahr wieder ein Fast- und Trauertag ist. Gleichzeitig bieten die Worte des Rambam eine hoffnungsvolle Perspektive: Wenn die Botschaft des Tages ernst genommen wird und sie die Herzen der Fastenden derart berührt, dass sie eine Umkehr bewirken, dann kann das die Zukunft verändern – sodass sich die traurigen in fröhliche Tage verwandeln.

Der Autor ist Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.

inhalt
Der Wochenabschnit Dewarim berichtet davon, wie Mosche vor der Überquerung des Jordans auf die Wanderung durch die Wüste zurückblickt. Er erinnert an die schlechten Nachrichten der Spione und sagt, dass Jehoschua an seine Stelle treten wird. Dann erinnert Mosche an die 40-jährige Wanderung und die Befreiung der ersten Generation aus Ägypten. Seiner Meinung nach gehört das, was die Eltern erlebt haben, zum Schicksal ihrer Kinder. Wozu sich die Vorfahren am Sinai verpflichtet haben, ist auch für die Nachkommen bindend. Es wird bestimmt, mit welchen Völkern sich die Israeliten auseinandersetzen dürfen und mit welchen nicht. Mosches Bitte, das Land Israel doch noch betreten zu dürfen, lehnt G’tt ab.
5. Buch Mose 1,1 – 3,22

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