In einer aggadischen Passage des Talmuds vergleicht Rabbi Schimon Ben Lakisch zwei Mizwot der Tora: »Raw Abba sagte im Namen von Rabbi Schimon Ben Lakisch: ›Größer ist derjenige, der einem Armen ein Darlehen gewährt, als derjenige, der Almosen gibt‹« (Schabbat 63a). Es ist bemerkenswert, dass Maimonides, der Rambam, den Vergleich von Ben Lakisch nicht nur anführt, sondern auch erläutert.
Rabbi Ben Lakisch spricht von einem zinslosen Darlehen. Ein Jude ist nämlich verpflichtet, einen bedürftigen Glaubensbruder mit einem zinslosen Darlehen zu unterstützen. Denn in der Tora steht geschrieben: »Da du Geld zu leihen hast meinem Volk, dem Bedürftigen neben dir, sei ihm nicht wie ein Schuldherr; ihr dürft ihm keinen Zins auferlegen« (2. Buch Mose 22,24). Die Pflicht der Armenhilfe sowie das Zinsverbot beruhen auf Gegenseitigkeit. Es ist jedoch erlaubt, Nichtjuden Zinsen zu geben – und auch von ihnen zu nehmen.
Im Traktat Makkot (24a) erkennt der Talmud in Psalm 15 mehrere Leitlinien für ein gottgefälliges Leben. Vers 5 des Psalms lautet: »Der sein Geld nicht um Zins gibt.« Der Talmud interpretiert diese Aussage des Psalmisten: »Nicht einmal an einen Nichtjuden!«
Es drängt sich die Frage auf: Warum nicht – es ist doch erlaubt? Raschi (1040–1105) erklärt: Der fromme Jude soll von einem Andersgläubigen deshalb keine Zinsen nehmen, weil er durch ein solches Geschäft auf die Idee kommen könnte, bei nächster Gelegenheit auch von Juden Zinsen zu fordern.
Einem Bedürftigen ein Darlehen zu gewähren steht höher als die Pflicht, dem Armen Geld zu schenken
Kehren wir zum Vergleich von Rabbi Schimon Ben Lakisch zurück. Aus seinen Worten geht hervor, dass die Pflicht, einem Bedürftigen ein Darlehen zu gewähren, höher steht als die Pflicht, dem Armen Geld zu schenken. Warum? Hat der Mittellose nicht mehr von einer Spende als von einem Darlehen, das er später zurückerstatten muss? Raschi entgegnet auf diesen Einwand, das Leihen sei deshalb vorzuziehen, weil der Bedürftige durch ein Darlehen nicht beschämt wird wie bei der Entgegennahme eines Geldgeschenks. Der Rambam hebt einen anderen Gesichtspunkt hervor: Ein Darlehen hilft, die Selbstständigkeit des Empfängers zu erhalten.
Nun muss jedes Darlehen irgendwann zurückgezahlt werden. Was aber, wenn der Arme nicht in der Lage ist, am vereinbarten Termin das Geld zurückzugeben? Von diesem Fall spricht der oben zitierte Tora-Vers: »Sei ihm nicht wie ein Schuldherr.« Raschi erklärt in seinem Kommentar: »Bedränge ihn nicht. Wenn du weißt, dass er kein Geld hat, um dir zu zahlen, verhalte dich ihm gegenüber, als hättest du ihm nie Geld geliehen.«
Wie weit die Rücksichtnahme auf einen zahlungsunfähigen Schuldner geht, zeigt ein Lehrsatz von Raw Dimi: »Wenn jemand von seinem Nächsten eine bestimmte Geldsumme zu fordern hat und weiß, dass der Schuldner das Geld nicht hat, darf er nicht an ihm vorübergehen« (Baba Metzia 75b).
Ein frommer Jude soll den Anblick seines Schuldners vermeiden, um diesen nicht zu beschämen
Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) bemerkt zu Raw Dimis Anweisung: »Während in außerjüdischen Kreisen der Schuldner vor dem Gläubiger sich nicht sehen lässt, ist dem jüdischen Gläubiger gesagt, den Anblick des Schuldners zu vermeiden, um diesem das kränkende Gefühl der Beschämung zu ersparen!«
Über Rabbiner Chajim Soloweitschik (1853–1918) wird erzählt, dass er einmal um ein Darlehen gebeten wurde, und er erfüllte den Wunsch des Bittstellers. Es verging dann eine sehr lange Zeit. Eines Tages kam der Schuldner aber doch und sagte zum Rabbiner: »Anscheinend besitzen Sie viel Geld und haben das mir gewährte Darlehen vergessen.« Da erwiderte Raw Soloweitschik: »Ihre Annahme ist falsch. Seit mehr als einem Jahr mache ich auf meinem Weg zur Synagoge täglich einen großen Umweg, um nicht an Ihrem Haus vorbeizugehen, wo wir uns vielleicht auf der Straße treffen könnten.«
Offensichtlich vermutete Rabbiner Soloweitschik, der säumige Schuldner sei mittellos – sonst hätte er diesen Mann wohl an das zinslose Darlehen erinnert, das er ihm in Erfüllung eines Tora-Gebots gewährt hatte.