Rabbi Jehoschua ben Levi sagte: »Wer barmherzig gegenüber Grausamen ist, wird letztlich grausam gegenüber Barmherzigen werden« (Midrasch Jalkut Schim’oni zu den Büchern der Propheten und der Schriftwerke, Remes 121). Stimmt doch, oder? Aber stimmt das wirklich?
Apodiktische Sätze, die als Wortspiel eines Gegensatzpaars daherkommen, sind schön eingängig. Aber sind sie auch richtig? Taugen solche Merksätze als Kompass für unser ethisches Verhalten?
AMALEK Die Aussage von Rabbi Jehoschua ben Levi wird als Kommentar zu einer Geschichte überliefert, die wir durchaus mit Unbehagen lesen. Es geht da um König Saul und den Auftrag, den der Prophet Samuel ihm übermittelt hatte: »Geh nun und schlage Amalek, und bannet alles, was sein ist. Und erbarme dich nicht seiner, sondern töte alles, von Mann bis Frau, von Kind bis Säugling, von Ochs bis Lamm, von Kamel bis Esel« (1. Buch Schmuel 15,3).
Um Missverständnissen vorzubeugen: Mit »Bann« ist im biblischen Kontext »ausnahmsloses Töten« gemeint. Saul erringt einen überwältigenden Sieg, »bannt« das ganze gegnerische Volk »mit der Schärfe des Schwerts«, aber dann führt er den Befehl Samuels nur unvollständig aus: Die Besten der Schafe, Rinder und Lämmer lässt er leben – und auch den Amalekiterkönig Agag.
Darüber entbrennt der Zorn Gottes, den es reut, Saul zum König Israels erwählt zu haben. Der Prophet Samuel stellt Saul zur Rede und schreitet selbst zur Tat, indem er eigenhändig Agag tötet. Wir lesen diese Geschichte jedes Jahr als Haftara am Schabbat Sachor, vor Purim, um daran zu erinnern, dass sich durch die Zeiten hindurch Israel des mythischen Erzfeinds Amalek zu erwehren hat. Wenn das Böse nicht entschieden bekämpft werde, räche sich das in dessen fortgesetzten Bemühungen, Israel zu vernichten.
In diesem Zusammenhang steht der Ausspruch von Rabbi Jehoschua ben Levi: »Wer barmherzig gegenüber Grausamen ist, wird letztlich grausam gegenüber Barmherzigen werden.«
WERTE Für sich allein zitiert, wirft dieser Satz aber viele Fragen auf. Gerade in seiner Griffigkeit birgt er die Gefahr der Simplifizierung. Denn moralische Kategorien wie »barmherzig« oder »grausam« sind keine absoluten Begriffe. Jede Ethik muss sich immer in konkreten Situationen beweisen.
Wir brauchen Regeln und Normen, aber nicht selten kollidieren in einer bestimmten Situation verschiedene Werte miteinander. Dann muss eine Entscheidung getroffen werden, welchem Wert größeres Gewicht beigemessen wird.
Aber, lässt sich da einwenden, die Kategorien von Barmherzigkeit und Grausamkeit stehen doch nicht gleichwertig nebeneinander, sie sind einander entgegengesetzt – edle Gesinnung versus Brutalität! Das Problem mit den Verhaltensweisen von Barmherzigkeit und von Grausamkeit liegt darin, dass sie auf Gefühlen (Mitleid oder Hass) und auf persönlichen Antrieben beruhen. Sie werden aus eigenem Gutdünken gewählt, sind also willkürlich und folgen nicht allgemein anerkannten Richtlinien zur Bewertung einer Übertretung.
UNTAT Eigentlich sollte es um die angemessene Ahndung einer Untat gehen, doch Barmherzigkeit wie auch Grausamkeit verweigern sich dem Maßstab der Verhältnismäßigkeit Und beide Verhaltensweisen entspringen einem enormen Machtgefälle gegenüber der ausgelieferten Person wie auch gegenüber der Gesellschaft, denn man meint, nicht an allgemeine Regeln gebunden zu sein. Jehoschua ben Levi warnt uns also vor der Anmaßung, unser subjektives Empfinden an die Stelle gesellschaftlicher Normen zu setzen.
Göttliches Erbarmen kommt aus dem Wissen, dass Menschen wandlungsfähig sind.
In der Regel haben wir im Alltag nicht solch eindeutige Anweisungen Gottes, wie biblische Propheten sie übermitteln. Wir brauchen aber Richtlinien, die uns Orientierung geben – und das sind Recht und Gesetz. Damit Strafen nicht nach eigenem Gefühl und in Willkür verhängt werden, benötigen wir Maßstäbe von Angemessenheit, die allgemeingültig sind und sich nicht allein aus der konkreten Tat ableiten.
Und wir müssen Institutionen der Rechtsprechung haben, deren Vertreter nicht in den Fall verwickelt sind und die ohne Ansehen der Person richten. Das nennen wir Gerechtigkeit, und die biblischen Synonyme dafür – Zedek, Zedaka, Din, Mischpat – haben alle eine gesellschaftliche Dimension. Es geht nicht um persönliche Genugtuung, sondern um eine nachprüfbare Rechtsprechung, die für alle gilt und auch allen zugänglich ist.Erst wenn es Regeln für alle gibt, kann eine Gesellschaft ein gedeihliches Miteinander aufbauen. Vergehen müssen geahndet werden, und eine Strafe muss der Tat entsprechen, das ist Gerechtigkeit.
SPANNUNG Und doch bleibt eine Spannung. Kein Gesetz kann alle konkreten Besonderheiten einer Tat oder eines Täters widerspiegeln, und so bleibt ein Ermessensspielraum für härtere oder mildere Strafen. Doch muss ein Gericht dies gut begründen. Allerdings macht uns das, was wir in einem Rechtsstaat bejahen, auf religiöser Ebene durchaus zu schaffen, denn da scheinen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit ein Gegensatzpaar zu bilden.
Jedes Jahr ab dem ersten Tag des jüdischen Monats Elul beginnt die Zeit, in der wir Gott darum bitten, nicht gemäß unseren Verfehlungen beurteilt zu werden. Die Verhältnismäßigkeit von Tat und Strafe, die wir in unserer irdischen Rechtsprechung einfordern, möge doch beim himmlischen Urteil der Hohen Feiertage nicht so streng gehandhabt werden.
Das Schofar, das ab dem 1. Elul geblasen wird, soll Gott daran erinnern, einen Wechsel der Perspektive vorzunehmen, vom Thron der Gerechtigkeit hin zum Thron der Barmherzigkeit. Kein Wunder also, dass der erfolgreiche Prophet Jona verzweifelte: Gott macht die Strafankündigung nicht wahr, sondern zeigt großes Erbarmen mit Mensch und Vieh in Ninive.
sinneswandel Der göttliche Sinneswandel kommt aus dem Wissen, dass Menschen Einsicht in ihr Verhalten gewinnen können und wandlungsfähig sind. Und das ist das Problem mit solchen eingängigen Sätzen wie dem von Rabbi Jehoschua ben Levi: Es geht eben nicht immer um ein Entweder-oder, um ein Alles-oder-nichts, sondern um ein weites Spektrum möglicher Verhaltensweisen, bei denen wir uns vom Streben nach Gerechtigkeit leiten lassen sollen.
Ein Anteil von Barmherzigkeit und Milde wird dabei unverzichtbar sein. In seinem Kommentar zum ersten Vers der Tora meint Raschi: »Anfangs gedachte Gott, die Welt nach der Maßgabe strenger Gerechtigkeit zu erschaffen. Aber dann sah Er, dass die Welt so keinen Bestand haben würde. So schuf Er zunächst die Maßgabe der Barmherzigkeit, damit sie sich der Gerechtigkeit zugeselle« – und danach Himmel und Erde.
Die Autorin ist Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde Hameln und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).