Selbstbeherrschung

Balance halten

Wenn ein Mensch laut wird, ist das innere Gleichgewicht gestört. Foto: Thinkstock

Das Schimpfen ist eine sehr problematische Eigenschaft. Es ist eine Krankheit, von der wir alle befallen sind. Es kann das innere Gleichgewicht des Menschen und die Beziehung innerhalb der Familie und der Gesellschaft zerstören.

Wir wissen, dass viele Menschen schimpfen, wenn sie nicht bekommen, was sie wollen. Der Mensch erwartet von seiner Umgebung ein bestimmtes Verhalten. Reagiert diese aber anders, als er sich dies vorgestellt hat, beginnt der Ärger. Das fängt schon bei Kleinigkeiten an: Der einzige vorhandene Kugelschreiber schreibt nicht mehr, oder man hat es am Morgen eilig, und das Auto springt nicht an.

Wenn ein Mensch laut wird, ist die Atmosphäre gestört; es herrscht »dicke Luft«. Forschungen haben gezeigt, dass Wassermoleküle ihre harmonische Anordnung verlieren, wenn sich in ihrer Nähe eine Störung vollzieht. Wir können uns also ganz leicht an fünf Fingern abzählen, was diese Entdeckung für unseren menschlichen Körper bedeutet, der zu 70 Prozent aus Flüssigkeit besteht.

Untugend Die rabbinische Literatur bietet viele Anregungen zu diesem Thema, damit wir der Untugend des Schimpfens nicht verfallen. Dazu einige Beispiele: »Wer schimpft, wird von verschiedenen Höllen beherrscht, sie besitzen ihn.« In dem Moment, in dem wir schimpfen, wird unsere Seele erschüttert. Wir verlieren unsere Beherrschung, sei es in verbaler Hinsicht oder sogar durch unsere Taten. Negative Kräfte schaden uns, und die Teufel dominieren uns. Das Schimpfen also gleicht der Hölle.

»Wer schimpft, den verlässt seine Seele.« Und dann verliert der Mensch das Schönste und das Feine. Auch die jüdische Mystik erzählt uns, dass der schimpfende Mensch wichtige Anteile seiner positiven seelischen Kräfte verliert. »Jeder, der schimpft, gleicht einem, der den Götzen dient.« Man erkennt in diesem Menschen keinen mehr, dem Gott die Tora und die Mizwot gegeben hat.

»Das Schimpfen bei den Dummen soll lieber unterbleiben.« Im Klartext heißt das: Nur ein Dummer schimpft. Im Buch Kohelet steht geschrieben: »Du sollst das Schimpfen von deinem Herzen entfernen, und damit hast du das Böse von deinem Inneren entfernt.«

Krankheit König Salomon meint, dass das Schimpfen uns – zusätzlich zu unserer allgemeinen seelischen Angeschlagenheit – auch noch physische Krankheiten einbringt. In der Medizin und auch in der Psychologie ist bekannt, dass Spannungen im zwischenmenschlichen Bereich die Ursache für somatische Beschwerden sein können.

Nach Einschätzung unserer Weisen ist die Überheblichkeit die Quelle allen Schimpfens. Von Geburt an erleben wir uns als Zentrum, als Nabel der Welt und beziehen alles, was um uns herum passiert, auf uns. Und wenn wir etwas aus unserer Umgebung hören, ist unsere typische – bewusste oder unbewusste – Reaktion: »Was hat das mit mir zu tun?«

Der Mensch kommt mit Eigenliebe und Eigensorge auf die Welt und versteht sich als ein Wesen, das von seinem Nächsten getrennt lebt. Und wenn er fühlt, dass er etwas nicht bekommen kann, was er sich vorstellt und wünscht, wird er unzufrieden, böse.

Seelen Jeder Mensch hat zwei Ichs (Ani). Das eine Ich ist das wahre und höchste, die Seele. Das zweite Ani ist sein Ego, das in der Lehre des Chassidismus die tierische Seele genannt wird. Dieses Ego lebt sich unter anderem in unserer Überheblichkeit aus. Unübersehbar und vor allem unüberhörbar ist dieses Ich-Ego, wenn ein Mensch explodiert.

Wer schimpft, geht oft davon aus, dass G’tt einen Fehler gemacht hat. Aber das ist ein lächerlicher Gedanke. Die Änderung unseres Fehlverhaltens müssen vielmehr wir selbst vornehmen. Hat ein Mensch erst einmal verstanden, warum er geschimpft hat, soll er seine Reaktionen korrigieren. Er muss lernen, die Menschen so zu akzeptieren, wie sie sind, und keine Vorurteile zu pflegen. Wir können uns auch nicht auf unser persönliches und angebliches Gutsein zurückziehen, denn der Tora (1. Buch Mose 8,21) zufolge gilt für jeden: »Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.« Unser Auftrag in dieser Welt lautet daher, »tikkun« zu machen – sich zu ändern.

Einsicht Es ist nicht einfach, gegen diese Neigung zum Schimpfen anzugehen. Aber es lohnt sich, denn dadurch verhindern wir, an den Folgen zu leiden. An erster Stelle sollten wir unser eigenes Auftreten kritisch unter die Lupe nehmen. Dabei werden wir unserer Schwachpunkte bewusst und können unsere Möglichkeiten mobilisieren, den »Schimpfteufel« in uns zu bekämpfen, der sich am Monster unserer Überheblichkeit nährt.

Voraussetzung dazu ist allerdings, dass man diesen »Schimpfteufel« auch überwinden will und sich sagt: Ich möchte nicht mehr schimpfen. Stattdessen möchte ich lieben, mich freuen und ruhiger werden. Das ist ein guter Anfang, um das Ziel zu erreichen.

Umkehr Bei der Umkehr helfen uns unsere Weisen. Sie zeigen uns den richtigen Weg, wie wir das Schimpfen auf verschiedenen Ebenen bekämpfen können. Sie betonen, wie wichtig es ist, dabei den Verstand einzuschalten, damit wir Schritt für Schritt dem Ziel näherkommen.

Erstens: Immer ruhig und leise sprechen. Der Ton macht die Musik. Bleibe sanft im Ton. Rambam schrieb in seinem berühmten Brief an den Sohn, der zur Jeschiwa gegangen war: »Wenn dich jemand ruft, antworte ihm nicht laut, sondern leise wie ein Schüler, der vor seinem Rabbiner steht.«

Jedes Kind weiß, wenn Vater oder Mutter mit ihm schimpft, ist das meistens ein Zeichen dafür, dass der Erwachsene ein Problem hat. Das Gleiche gilt auch für manche Situation am Arbeitsplatz. Wenn der Chef seine Stimme übermäßig erhebt, weist das auf eine Schwäche seinerseits hin. Er versucht durch die Lautstärke der Worte über seine innere Bedrohung, Krise und Angst hinwegzutäuschen. »Die Weisheiten der Klugen aber hört man leise mit Vergnügen.«

Zweitens: Im Streit empfiehlt es sich, nicht sofort zu antworten. Auseinandersetzungen sollten in Ruhe geführt werden, sonst werden sie nur noch unerbittlicher und verletzender für alle Beteiligten. In der Hitze des Gefechts aufs Abkühlen setzen. Lieber einen Tag abwarten.

fronten Drittens: Die Fronten sich beruhigen lassen. Mein Vater sel. A. gab mir den Rat, wenn ich sehr aufgebracht und erregt war, tief durchzuatmen und spazieren zu gehen. Das hat mir sehr geholfen. Die Großeltern haben immer gesagt, bevor man antwortet, sollte man bis zehn zählen oder ein Glas kaltes Wasser trinken.

Viertens: Wir sollten versuchen, einen Menschen immer positiv zu beurteilen und Erbarmen zu zeigen. Dazu gehört es, sich in die Situation des anderen hinein zu denken und zu fühlen. Vielleicht hat ja derjenige, der gerade mit mir schimpft, einen Berg persönlicher Probleme zu bewältigen, einen Umbruch in seinem Leben zu verkraften und meint es gar nicht persönlich mit mir.
Wenn ich mit jemandem in einem Raum arbeite und mich die Art und Weise, wie er sich verhält, stört, soll ich besonders an seine guten Eigenschaften denken, denn jeder Mensch hat gute und schlechte Eigenschaften.

Fünftens: »Nachdem wir mit jemandem geschimpft haben, sollen wir unser Verhalten überprüfen.« Wir müssen uns Gedanken machen und analysieren, warum wir uns gerade so benommen haben. Sind wir, wenn wir einmal wieder in eine ähnliche Situation kommen, vor einer Wiederholung unseres schlechten Verhaltens gefeit?

Bewährung »Wir sollten uns immer bewusst sein, dass das, was uns zustößt, eine Probe darstellt.« Alles hat seine Gründe, sagt die jüdische Mystik. Auch wenn wir leiden, ist es für uns eine Lehre, aber keine Strafe. Es bietet uns eine Möglichkeit zur Verbesserung. Das Judentum betont, dass Gott uns solche Proben zur Bewährung auferlegt. Daher sind wir aufgerufen, Situationen des Leidens mit Liebe zu akzeptieren. Ein bescheidener Mensch versteht es, die Realität zu akzeptieren, weil er darauf vertraut, dass alles von Gott kommt und seinem Willen unterliegt.

Ein klassisches Beispiel für diese Überzeugung finden wir beispielsweise in der Geschichte von Josef und seinen Brüdern: Als der Vater Jakow starb, dachten sie, dass sich Josef jetzt an ihnen rächen würde. Daraufhin antwortete Josef: Die Brüder trügen keine Schuld, weil es Gottes Wille war, dass er nach Ägypten kam, wo er Vizekönig wurde.

Rabbiner Awraham Jizchak Kook sel. A. (1865–1935) sagt über das Schimpfen: »Wenn ein Mensch schimpft, zeigt er, dass er Talente, Träume oder starke Ambitionen hat, die er nicht verwirklichen kann. Vor diesem Hintergrund muss es uns also darum gehen, unsere Gaben und Vorhaben so zu realisieren, dass sie mit spiritueller Hilfe in Bahnen geleitet werden, auf denen sie keinen Schaden anrichten.«

In der Umgangssprache sagen wir, dass derjenige ein Mann sei, der auf den Tisch klopft, und alle müssen ihm zuhören – und manchmal gibt es auch solche Frauen. Im Judentum heißt das Wort für Mann »Gewer« und ist mit dem Verb »lehitgaber« verwandt, das »überwinden« bedeutet. Der also, der die Versuchung zum Schimpfen überwindet, ist der wahrhafte Held. Nicht umsonst heißt es: »Der ist ein Held, der seinen Trieb bekämpfen kann.«

Chaje Sara

Handeln für Generationen

Was ein Grundstückskauf und eine Eheanbahnung mit der Bindung zum Heiligen Land zu tun haben

von Rabbiner Joel Berger  22.11.2024

Talmudisches

Elefant

Was unsere Weisen über die Dickhäuter lehrten

von Rabbiner Netanel Olhoeft  22.11.2024

Studium

»Was wir von den Rabbinern erwarten, ist enorm«

Seit 15 Jahren werden in Deutschland wieder orthodoxe Rabbiner ausgebildet. Ein Gespräch mit dem Gründungsdirektor des Rabbinerseminars zu Berlin, Josh Spinner, und Zentralratspräsident Josef Schuster

von Mascha Malburg  21.11.2024

Europäische Rabbinerkonferenz

Rabbiner beunruhigt über Papst-Worte zu Völkermord-Untersuchung

Sie sprechen von »heimlicher Propaganda«, um Verantwortung auf die Opfer zu verlagern: Die Europäische Rabbinerkonferenz kritisiert Völkermord-Vorwürfe gegen Israel scharf. Und blickt auch auf jüngste Papst-Äußerungen

von Leticia Witte  19.11.2024

Engagement

Im Kleinen die Welt verbessern

Mitzvah Day: Wie der Tag der guten Taten positiven Einfluss auf die Welt nehmen will

von Paula Konersmann  17.11.2024

Wajera

Offene Türen

Am Beispiel Awrahams lehrt uns die Tora, gastfreundlich zu sein

von David Gavriel Ilishaev  15.11.2024

Talmudisches

Hiob und die Kundschafter

Was unsere Weisen über die Ankunft der Spione schreiben

von Vyacheslav Dobrovych  15.11.2024

Gebote

Himmlische Belohnung

Ein Leben nach Gʼttes Regeln wird honoriert – so steht es in der Tora. Aber wie soll das funktionieren?

von Daniel Neumann  14.11.2024

New York

Sotheby’s will 1500 Jahre alte Steintafel mit den Zehn Geboten versteigern

Mit welcher Summe rechnet das Auktionshaus?

 14.11.2024