Akedah

Awrahams Reifeprüfung

Hatte der Ewige wirklich beim Erlass des Gebots die Absicht, dass Awraham seinen Sohn töten sollte? Moderne Nachstellung der Akedah Foto: Benyamin Reich

Ein bekanntes Sprichwort auf Jiddisch lautet: »A Mentsch tracht, un G’tt lacht …« – »Der Mensch plant, und G’tt lacht.« Wie oft hat es sich ergeben, dass wir im Leben große Pläne wie eine Reise oder ein Studium schmiedeten oder dass wir uns einfach kurz zum Ausruhen hinsetzen wollten, und – bums – nimmt alles einen anderen Verlauf. Freunde rufen uns plötzlich an und melden, dass sie an der Türschwelle stehen und nur einen Kaffee trinken möchten. Der Chef teilt mit, dass ein neues Projekt gestartet wird, weshalb wir den Urlaub ganz einfach absagen, und vieles mehr.

Manchmal führt eine solche Änderung zum Besseren, in anderen Fällen ist es nicht so einfach. Manchmal ändern sich die Pläne wegen einer Krankheit, und noch viele andere Fälle können eintreten, die besser gar nicht erst erwähnt werden.

Brandopfer Eines der wichtigsten Ereignisse, die die Einmaligkeit des Neujahrs symbolisieren, ist die Akedah von Jitzchak. Awraham wird aufgefordert, Jitzchak, seinen einzigen Sohn, zu nehmen und ihn als Brandopfer darzubringen. Dieses Gebot bedarf der Klärung, ob es logisch ist, dass G’tt einem Menschen befiehlt, seinen Sohn zu opfern. Und noch dazu, da G’tt Awraham versprochen hat, dass ein ganzes Volk von ihm abstammen werde, dessen Aufgabe darin bestehen soll, der Welt den Glauben zu offenbaren. Und dann, plötzlich, mit einem kurzen Satz, bevor dieser Sohn überhaupt Nachkommen zeugen konnte, wird Awraham aufgefordert, das Kind als Opfer darzubringen?

Darüber hinaus haben Awraham und Sara bis zur Geburt von Jitzchak so viele Jahre kinderlos verbracht, und das Hoffen auf ein weiteres Kind würde jeder Logik entbehren. Dennoch nahm Awraham frühmorgens, wie in der Tora beschrieben, das Notwendige für unterwegs und zur Opferdarbringung seines Sohnes und machte sich auf den Weg. Was fühlte Awraham dabei? Ohne auf die Frage einzugehen, ob er freudig über das Gebot oder traurig über die Möglichkeit war, seinen einzigen Sohn zu verlieren, was fühlte er persönlich gegenüber diesem Gebot des Allmächtigen?

Wenn wir es richtig wahrnehmen, haben wir G’tt auf der einen Seite, der Awraham gebietet, und Awraham auf der anderen Seite, der dem Gebot gehorcht. Neben ihnen kommt Jitzchak vor. Bis der Knabe aber an den Altar gebunden wird, kennt er keine Angaben zum Gebot und weiß nicht den Grund zum Aufbruch auf den Weg.

Gottesfürchtig Hatte der Ewige wirklich beim Erlass des Gebots die Absicht, dass Awraham seinen Sohn töten sollte? Er, der uns ausdrücklich gebietet, nicht zu morden? Er, der dem Menschen seit der Schöpfung der Welt das Leben schenkt, soll jetzt kommen und Awraham, dem Menschen, gebieten, auf das Leben seines geliebten Sohnes, seines einzigen Sohnes, zu verzichten?

Das Ende des Kapitels zeugt für seinen Anfang: »Und er sprach: Strecke nicht deine Hand nach dem Knaben aus, und tue ihm nicht das Geringste. Denn nun weiß ich, dass du gottesfürchtig bist; denn du hast mir nicht verweigert deinen Sohn, deinen einzigen« (1. Buch Mose 22, 12).

Der Ewige bezweckte die Prüfung Awrahams und der Tiefe seines Glaubens an den Schöpfer. Viele Male treffen wir Personen an, die sehr hochmütig reden, die lauter Versprechen und Erklärungen ohne jede Deckung aussprechen. Um zu gewährleisten, dass Awraham seinen Glauben an den Allmächtigen nicht nur bekennt, sondern gewillt ist, sich dafür hinzugeben, wird er an dem geprüft, was ihm am liebsten ist. Die Validität seines Glaubens enthüllt sich in seiner Willigkeit, etwas dafür zu opfern.

Willigkeit Jedermann, der Liebe für einen Nächsten empfindet, weiß, dass der Preis für Liebe die Willigkeit ist, dem Geliebten beizustehen und ihm zu helfen, selbst wenn es von ihm ein hohes persönliches Opfer erfordert. Der Glaube im Innern allein liefert noch nicht die Antwort, denn es gibt Wege, den Glauben kundzutun, Wege, auf denen er einen praktischen Ausdruck im Leben findet.

Der Midrasch hebt die Verwirrung hervor, die Awraham gegenüber G’tt ausdrückte: »Früher sagtest Du zu mir: ›Denn durch Jitzchak wird dir Nachkommenschaft genannt werden.‹ Dann wieder sagtest Du: ›Nimm doch deinen Sohn!‹ Jetzt sagst Du zu mir: ›Strecke deine Hand nicht aus nach dem Jüngling!‹« Da sagte G’tt zu Awraham: »Ich entweihe meinen Bund nicht, und den Ausspruch meiner Lippen ändere ich nicht. Ich habe dir nicht gesagt: ›Schlachte ihn!‹, sondern ›Bringe ihn hinauf!‹ Du hast ihn hinaufgebracht, so führe ihn jetzt wieder hinab!« (Bereschit Rabba)

Es ist nicht einfach, dem Gefühl zu entgehen, dass Awraham das Gebot wirklich anders verstanden hat. Er hat hier tatsächlich die Absicht verstanden, die aus dem Binden des Sohnes an den Altar bestand, um ihn zu töten. Awraham weicht nicht aus, sondern gehorcht im höchsten Maße.

Rabbi Akiva fragt im Midrasch: Der Heilige, gelobt sei Er, kann gebieten, dass die Ausführung sofort vor sich geht – warum gebietet Er ihm aber vorher, drei Tage lang zu gehen, und erst danach gebietet Er ihm, den Sohn zu binden? Der Heilige erteilte Awraham Zeit zum Nachdenken. Falls er die sofortige Ausführung verlangt hätte, hätte Awraham dies in Eile und in Schrecken vollzogen, was er danach sehr bereut hätte. Stattdessen wird Awraham Zeit gegeben, in Ruhe nachzudenken, um danach das Gebotene mit Bedacht zu vollziehen.

Neuanfang Das Neujahrsfest ist, wie aus seinem Namen hervorgeht, ein neuer Anfang im Leben des Menschen. Auf der einen Seite ist es ein Tag voller Hoffnung, ein Tag, an dem wir unsere Ambitionen in Gebeten kundtun und hoffen, dass alle unsere Wünsche in Erfüllung gehen werden.

Auf der anderen Seite ist es ein Tag, an dem unsere Zukunft anscheinend stark in Zweifel steht: der Tag, an dem die Bücher des Lebens vor dem Heiligen, gelobt sei Er, offen stehen, alle Menschen an ihm vorbeigehen, und Er entscheidet, wer dem Leben zugeht und wer nicht … Wie werden wir mit einem solchen Tag fertig? Das Sprichwort scheint hier zutreffend: »… A Mentsch tracht, un G’tt lacht …«

Die Auseinandersetzung, die Awraham mit der Akedah durchmachte, lehrt uns jedes Jahr an Neujahr vieles. Awraham verliert keineswegs die Fassung. Er stellt Fragen und ergründet die Tiefe der Angelegenheit. Seine Liebe zum Ewigen jedoch, seine Treue und Hingabe dem Ewigen gegenüber, werden dabei gestärkt.

Bereitschaft Er hätte sich auch widersetzen können. Er hätte beten und um das Leben seines Sohnes flehen können. Awraham versteht, dass die Welt einer Führung unterliegt, in deren Händen er sich befindet. Sein Glaube ist stark, und er ist willig, alles auf sich zu nehmen. Die Einmaligkeit seines Glaubens beruht auf seiner Bereitschaft, das Gebot zum Binden seines Sohnes in Lobpreisung zu akzeptieren, und danach das Gebot, das dies untersagt, zu akzeptieren: »Strecke nicht deine Hand nach dem Knaben aus.«

Auch der scheinbare Widerspruch zwischen den Geboten lehrt uns etwas besonders Wichtiges: Der Mensch kann die Zukunft ändern. Die Tatsache, dass der Glaube Awrahams an den Ewigen standhielt, als alle bereits überzeugt waren, dass Awraham gottesfürchtig sei, konnte die Zukunft ändern, indem das Gebot über die Heiligkeit des Lebens erteilt wurde, das Gebot, welches sagt: »Strecke nicht deine Hand nach dem Knaben aus.«

Der Mensch muss wissen, dass das g’ttliche Walten und die Aufsicht über die Welt Entscheidungen in des Menschen Händen lässt und ihm die Wahl zur Änderung der Zukunft gibt. Jede positive Änderung, die der Mensch auf sich nimmt, sowie seine Bereitschaft zur Berichtigung seines Benehmens und zur Berichtigung der Welt führen dazu, dass der König der Welt versteht, dass es hier echte Partner gibt, denen eine zusätzliche Chance gebührt.

Vertrauen Obwohl der Ewige bereits im Vorhinein nicht an der tatsächlichen Aufopferung von Jitzchak interessiert war, sondern die Willigkeit, jenen zum Brandopfer zu binden, prüfen wollte, darf man nicht die Tatsache ignorieren, dass der Aufruf, die Tötung nicht zu vollziehen, von der Begründung begleitet ist: »… denn nun weiß ich, dass du gottesfürchtig bist«. Jetzt gibt es eine tiefe Grundlage des Vertrauens unter uns, weshalb die Zukunft besser sein wird.

Nicht ohne Grund blasen wir in das Horn eines Widders. Das Schofar stellt eine Verbindung her zwischen dem Widder als Brandopfer anstelle der Akedah von Jitzchak und der Erinnerung an diese Begebenheit. Die Liebe, die Verbindung und unsere Hingabe an den Schöpfer, sei Er gesegnet, erhöhen bei uns die Bereitschaft, sein Walten über die Welt so zu akzeptieren, wie es ist. Dabei nehmen wir die Verpflichtung auf uns, unsere Wege und Handlungen zu berichtigen und damit die Welt zu verbessern.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Kultusgemeinde Groß-Dortmund.

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