Das »Awinu Malkenu« ist eines der wichtigsten Gebete im Judentum. »Unser Vater, unser König, sei uns gnädig und erhöre uns, auch wenn wir keine gute Taten aufweisen können! Erweise uns Gnade und Güte, hilf uns!«, lesen wir im Machsor. Wohl kaum jemand ist von diesem Gebet, einer Aufzählung von Fürbitten, in seinem tiefsten Inneren nicht berührt – allein schon wegen der besonders emotionalen Melodie der oben angeführten letzten Strophe.
Fasttag Der Talmud erzählt uns, dass das Awinu Malkenu auf Rabbi Akiwa zurückgeht: Während einer schlimmen Dürre wurde ein Fasttag ausgerufen. Rabbi Elieser rezitierte daraufhin ein ganz besonderes Amida-Gebet: 24 Segenssprüche lang und speziell für solche Gelegenheiten konzipiert. Doch trotz aller Anstrengung regnete es nicht. Da trug sein Schüler, Rabbi Akiwa, ein fünfzeiliges Gebet vor, das jeweils mit den Worten »Awinu Malkenu« begann. Und prompt regnete es (Talmud, Taanit 25b).
Bei einer solchen Wirkung ist es selbstverständlich, dass das Awinu Malkenu seitdem, je nach Tradition, an verschiedenen Fasttagen gesprochen wird. Vor allem aber wird es an den zehn Bußtagen von Rosch Haschana bis Jom Kippur gesagt – in der Hoffnung, G’tt möge uns spätestens an Jom Kippur gnädig sein: Denn an diesem Tag entscheidet Er, wer ein schweres und wer ein gutes Jahr haben wird und wen Er ins Buch des Lebens einträgt (Talmud, Rosch Haschana 16b). Die ursprünglichen fünf Zeilen des Rabbi Akiwa sind im Laufe der vielen Jahre in manchen Gemeinden sogar bis auf mehr als 50 Fürbitten angewachsen.
Missetaten Wie schon bei Rabbi Akiwa fängt jede Fürbitte mit den Worten »Awinu Malkenu« an. Bei dieser Wortwahl denken wir an zwei verschiedene Aspekte G’ttes: Zum einen hoffen wir, dass Er uns trotz etwaiger Missetaten nachsichtig behandeln wird. Zum anderen erkennen wir Seine Rolle als König und Richter an. Obwohl wir wissen, dass G’tt uns wie ein Vater liebt, respektieren wir dennoch seine Allmacht.
Auf die Frage, warum in den meisten Siddurim die ersten 43 Fürbitten laut und selbstsicher ausgerufen werden und die letzte hingegen demütig rezitiert wird, antwortete der Maggid von Dubno mit folgender Parabel: »Es gab einmal einen reichen Kaufmann, der regelmäßig zu einem Großhändler fuhr, um Ware zu kaufen.
Dort ging er mit erhobenem Kopf im Lager herum, zeigte auf die gewünschten Waren und befahl mit lauter Stimme seine Wünsche. So ging es jahrein, jahraus – bis eines Tages die Geschäfte anfingen, schlecht zu laufen. Natürlich wollte der Kaufmann nicht, dass es die anderen bemerken. Also ging er wie immer regelmäßig zu seinem Großhändler und machte weiter in seiner gewohnten Art – bis er seine Ware nicht mehr bezahlen konnte. Da ging er demütig zu dem Großhändler, erklärte ihm im Flüsterton die Situation und fragte sehr bescheiden, ob er ihm wohl einen Kredit gewähren könne, bis die Lage sich gebessert hätte.«
Jom Kippur Das Awinu Malkenu wird bei geöffnetem Toraschrank gesprochen. Und es wird in aschkenasischen Gemeinden nie an einem Schabbat rezitiert, außer am Schluss des Jom-Kippur-G’ttesdienstes. Denn wie könnten wir G’tt am Schabbat um etwas bitten, das unseren materiellen Wünschen entspricht (Schulchan Aruch, Orach Chajim 584,1)?
Im Jom-Kippur-G’ttesdienst wird das Wort »eingeschrieben« (in das Buch des Gedenkens) durch das Wort »versiegelt« ersetzt, da G’ttes Entscheidung jetzt endgültig ist. Möge das Awinu Malkenu auch bei Ihnen zu einem guten, gebenschten Jahr beitragen!