Die Zahl sieben nimmt im Judentum eine besondere Stellung ein. Wir denken an die siebenarmige Menora, an die sieben mageren, und an die sieben fetten Jahre im ägyptischen Exil. Und wir erinnern uns an die siebentägige Schöpfungsgeschichte und an das Schmitta-Jahr, das jetzt beginnt. Doch alles zu seiner Zeit. Beginnen wir also zunächst mit der Erschaffung der Welt.
Im Laufe von nur sechs Zeitabschnitten kreierte der Allmächtige nicht nur Himmel und Erde, Licht und Finsternis, Pflanzen und Tiere. Er schuf auch Eva und Adam. Als dem Ewigen am siebten Tag gewahr wurde, dass sein Werk der Schöpfung vollendet war, sprach er den Tag heilig und ruhte sich aus.
Dieser heilige Tag ist Ausdruck einer wahrhaftig humanistischen Grundhaltung, die nicht genug gewürdigt werden kann. An diesem Tag wurde der Menschheit ein universell gültiges Geschenk offenbart, das uns seit Jahrtausenden allwöchentlich neue Freude bereitet. Juden, Christen und Muslime, selbst Agnostiker und Atheisten verdanken dem Ewigen einen arbeitsfreien Tag.
Utopie Kulturhistorisch betrachtet verkörpert der Schabbat eine real gewordene utopische Vorstellung. Ob arm oder reich, gläubig oder nicht, Mann oder Frau, vor Gott sind alle gleich. Ob Mensch oder Vieh, Tagelöhner oder Sklave, jedem Wesen wurde an dem Tag das Recht gewährt, innezuhalten, sein Energiereservoir wieder aufzutanken, einfach mal durchzuatmen und den heiligen Tag zu feiern.
So gesehen stellt der Schabbat eine sozialrevolutionäre Zäsur dar, weil er die königliche Herrschaft in ihre Schranken wies. Der Schabbat war keine Gnadenbefugnis, die ein Herrscher aus Fleisch und Blut durch Erlass gewähren und willkürlich wieder aufheben konnte. Er war vielmehr Ausdruck einer göttlichen Offenbarung, die dem Menschen die Möglichkeit zur körperlichen und mentalen Erholung, und darüber hinaus den Weg zur religiösen Vertiefung und spirituellen Erweiterung ebnete.
Diese heilige Ruhe stellt einen ewig gültigen Segen dar, betrachtet man den Schabbat in Zusammenhang mit der Vertreibung von Eva und Adam aus dem Gan Eden, an deren Folgen wir bis zum heutigen Tag leiden. So sprach der Ewige zu Adam: »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen« (1. Buch Mose, 3,17).
Befreiung Ob im Exil oder in Gefangenschaft, der siebte Tag gewährte den Geschundenen eine Gelegenheit, sich zumindest innerlich, von dem Joch der Zwangsarbeit zu befreien – ein einmaliger emanzipatorischer Akt.
Die göttliche Idee eines arbeitsfreien Tags blieb kein Exklusivrecht der Israeliten. Das Gebot der Schabbatruhe wurde, in Anlehnung an die eigenen schrecklichen Erfahrungen der Unterdrückung und Ausbeutung im Exil, später auf alle Lebewesen eines jüdischen Hauses angewandt. Ob Magd oder Knecht, Fremder oder Sklave, jedes Wesen genoss das Recht, an diesem besonderen Tag die Arbeit niederzulegen.
Dass Begriffe wie Freiheit und Nachhaltigkeit im Judentum von fundamentaler Bedeutung sind, kann man den Geboten des Schabbats und des Schmitta-Jahrs entnehmen, von dem es heißt: »Im siebten sollst du es brachliegen lassen und nicht bestellen. Die Armen in deinem Volk sollen davon essen, den Rest mögen die Tiere des Feldes fressen. Das Gleiche sollst du mit deinem Weinberg und deinen Ölbäumen tun.« (2. Buch Mose 23, 10–12)
Das Schmitta-Jahr bot den verschuldeten Israeliten die Möglichkeit, nicht nur ihre Würde und ihren Platz in der Gemeinschaft wieder zu erlangen, sondern auch ihr in Not verkauftes Erbteil. Selbst Sklaven hatten das Recht, ihre Freiheit wiederzubekommen: »Alle sieben Jahre sollt ihr euren hebräischen Bruder freilassen, der sich euch als Sklave verkauft hat. Sechs Jahre soll er dein Sklave sein, aber dann sollst du ihn als freien Mann gehen lassen.« (2. Buch Mose 21,2).
Erlass Schon Joseph ben Matitjahu, genannt Josephus Flavius, hielt als jüdisch-römischer Geschichtsschreiber in Antiquitates Judaicae den Erlass-Gedanken fest. Die göttliche Rechtsordnung als Schutzwall gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen? Durchaus!
Das biblische Gebot, den Schabbat und das Schmitta-Jahr zu achten, erweist sich bei näherem Hinsehen als ein prophetisches Antidot zu einer gefährlichen Entwicklung, an der immer mehr Menschen leiden: dem Stress einer hochkomplexen Turbo-Gesellschaft. Untersuchungen belegen, dass der Konsum an Psychopharmaka kritische Ausmaße angenommen hat.
Der Gedanke eines sich gegenseitig bedingenden Verhältnisses von Arbeit und Erholung, von Verausgabung und Regeneration, das in der Bibel für sinnvoll und notwendig erachtet wurde, scheint im Zeitalter der Konsumtempel, der Schnäppchenjäger und Fast-Food-Esser seine Gültigkeit verloren zu haben. Auf der hastigen Suche nach dem billigen Glück geht die Angst um.
Insofern reihen sich die wiederholten Berichte über die bedrohliche Zunahme von Burn-out in ein insgesamt düsteres Bild ein, dem Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles durch eine Anti-Stress-Verordnung entgegenzuwirken hofft.
abschalten Schon ihre Vorgängerin Ursula von der Leyen hatte Chefs dazu aufgefordert, Körper und Geist ihrer Mitarbeiter zu schützen und aktiv gegen ständige Erreichbarkeit vorzugehen. Wie sollen jedoch Belegschaft und Personal geschützt werden, wenn sich immer mehr Menschen über bedenkenlosen Konsum definieren und Schnäppchenjägerei als Weekend-Sportvergnügen betrachten? Ein Individuum, das nur noch konsumiert, ausschließlich um des Konsums willen, führt ein sinnentleertes, selbstentfremdetes Leben.
Eine immer größere Zahl an Beschäftigten leidet an den Folgen von Multitasking, Termin- und Leistungsdruck sowie an ständigen Unterbrechungen – und erkrankt daran. Die volkswirtschaftlichen Folgen gehen in die Milliarden. Die Fehlzeiten infolge psychischer Erkrankungen, die immer häufiger zu einem unfreiwilligen, vorzeitigen Ausscheiden aus dem Arbeitsleben führen, steigen signifikant.
Die Tatsache, dass immer mehr Menschen auf der Überholspur leben und es nicht schaffen, den Fuß vom Gaspedal zu nehmen, verdeutlicht, wie wichtig es ist, auf die eigenen psychologischen Grundbedürfnisse zu achten, sich von dem atemberaubenden Tempo innerlich zu befreien, regelmäßig Pausen einzulegen, sich immer wieder selbst zu disziplinieren und auf ein angemessenes Gleichgewicht zwischen Beruf und Privatleben zu achten.
Leider haben die Menschen ein kurzes Gedächtnis. Und viele leiden an einer verzerrten Selbstwahrnehmung. Besonders erfolgreiche Menschen, die vom eigenen Narzissmus geblendet sind, glauben an die ewige Jugend. Sie häufen Posten an und schmücken sich mit Besitz, in der Hoffnung, bewundert zu werden. Sie klagen über unzufriedene und illoyale Mitarbeiter, die sich nicht zu höherer Leistung anspornen lassen, und vergessen allzu gerne, ihre Angestellten fair und gerecht zu behandeln.
Raubbau Und während auf der einen Seite immer mehr Menschen über Hektik, Zeit- und Arbeitsdruck am Arbeitsplatz klagen, wächst auf der anderen Seite der Gesellschaft ein Heer von Arbeitslosen, Sozialdienst-empfängern, Teilzeitarbeitern und Leiharbeitern. Bei ihnen – wie auch bei Alleinerziehenden und chronisch Kranken – ist der negative Stress enorm, nicht zuletzt wegen der realen Gefahr, als Almosenempfänger an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden.
Gerade in diesem Schmitta-Jahr wäre es sinnvoll, sich daran zu erinnern, dass weniger oft mehr ist. Wer nach dem Prinzip »Nur harte Arbeit zählt« lebt und nach Anerkennung strebt, wer seine wahre Meinung verbirgt, um sich Vorteile zu verschaffen, der ignoriert, was seiner Umwelt geschieht. Wer mehr nutzt, als er erntet, mehr ausbeutet als nachwächst, betreibt Raubbau an sich selbst und an der Natur.
Sabbatical Ein Sabbatical ist ein Privileg einiger weniger Manager und Akademiker. Wäre es daher nicht für alle sinnvoll, öfter bewusst innezuhalten und über das eigene Leben zu reflektieren? Sich Zeit für Familie und Freunde zu nehmen? Einen »elektronischen Fastentag« einzulegen und sich über einen guten Witz zu freuen? Schon im Buch Kohelet fragte König Salomo: »Denn was kriegt der Mensch von aller seiner Arbeit und Mühe seines Herzens, die er hat unter der Sonne?« und mahnte an: »Alles hat seine Zeit« (Kohelet 3,1).
Am Ende der Schöpfung sah Gott, dass es gut ist. Dieses Erkennen erfordert Innehalten, Achtsamkeit und Selbstreflexion. Das kommende Schmitta-Jahr bietet uns reichlich Möglichkeiten, das Richtige zu tun. Fangen wir an!
Der Autor ist Management-Berater, Coach und Verfasser des Buches »Die Kunst, gelassen zu bleiben«.