Unser Wochenabschnitt beginnt mit der Flucht Jakows, dem Enkel Awrahams, aus seinem Elternhaus. Sein Bruder Esaw hat ihm Rache geschworen wegen der List um den Segen ihres Vaters Jizchak, die ihn benachteiligt hat. So beschließt die Mutter, Riwka, dass Jakow für eine Weile bei ihrer Familie untertaucht, bis sich die Gemüter wieder beruhigt haben.
Wieder einmal ist es eine Frau, die entscheidend ins Geschehen eingreift. Ihr Handeln und nicht das ihres Mannes, des Patriarchen Jizchak, bestimmt das weitere Schicksal ihrer Söhne.
segen Lässt die Tora den Segen, den Jakow auf Anraten seiner Mutter durch eine geschickte Täuschung erschleichen konnte, in Erfüllung gehen, oder verurteilt sie den »listigen Jüngling«, der sich auf Kosten seines Bruders Esaw zweimal Vorteile verschaffte? Ein früherer Abschnitt berichtete bereits über die um den Preis eines Linsengerichts erkauften Erstgeburtsrechte. Diese Rechte könnten Jakow einen doppelten Anteil aus der väterlichen Erbmasse sichern.
Die erste Szene in dieser Parascha erweckt den Eindruck, dass die Tora Jakow nicht bestrafen will. In seinem Traum hört er die Stimme G’ttes: »Das Land, auf dem du liegst, will Ich dir und deinen Nachkommen geben« (1. Buch Mose 28,13). Und weiter sagt der Ewige: »Ich bin mit dir, Ich werde dich behüten, wo immer du auch hingehst und werde dich dann in dieses Land zurückführen« (28,15).
Wäre das die Gerechtigkeit des einzigen G’ttes in seiner Tora? Beistand und eine Erneuerung des Bundes mit Jakow, der seinen tollpatschigen Bruder betrogen hat?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir den Ereignissen noch eine Weile freien Lauf lassen. Denn die Gerechtigkeit, die die Tora walten lässt, benützt nicht die irdischen Drehbücher, um sich Geltung zu verschaffen.
WANDERUNG Nach längerer Wanderung durch die Wüste erreicht Jakow das Haus seines Onkels Lawan. Der nicht minder raffinierte Onkel durchschaut die Lage seines Neffen. Er merkt, dass von Jakow nicht, wie einst beim Eintreffen von Awrahams Knecht Elieser, reiche Geschenke zu erwarten sind. Vor ihm steht ein Geflüchteter, der Schutz und Obdach sucht. So begrüßt ihn Lawan nach der im Orient üblichen Umarmung recht nüchtern: »Du bist doch mein Bein und Fleisch« (29,14), als ob er sagen wollte: Du bist zwar ein armer Schlucker, aber doch ein Verwandter, den ich nicht wegjagen darf.
Der Midrasch wertet diese familiäre Umarmung so, dass Lawan damit Jakow nach verstecktem Schmuck und Wertgegenständen abtasten wollte, um genauer zu wissen, was von dem Gast zu erwarten sei. Der Flüchtling Jakow wollte aber gar keine familiäre Hilfe von Lawan, sondern fing sofort an zu arbeiten.
Nach einem Monat schien seine Leistung dem Onkel durchaus von Wert zu sein, denn er sagte zu ihm: »Sag mir, was dein Lohn sein soll« (29,15). So änderte sich Jakows Lage im Haus seines Onkels: Er wurde von einem freiwillig arbeitenden Gast zum Lohnarbeiter. Er stellte klare Bedingungen: Er ist entschlossen, sich eine Existenz aufzubauen – mit Lawans jüngerer Tochter Rachel als seiner Frau. Der Onkel und potenzielle Schwiegervater dagegen will noch keine klaren Verhältnisse. Nun ist er es, der List anwendet, und der Leidtragende heißt: Jakow!
hochzeitszelt Als es so weit ist, findet Jakow in seinem Hochzeitszelt nicht Rachel, sondern Lawans ältere Tochter Lea. Jetzt ist Jakow der Betrogene, und als er sich wütend gegen Lawan auflehnen will, muss er sich von ihm belehren lassen: »Es ist bei uns nicht üblich, die Jüngere vor der Älteren herauszugeben« (29,26). Also muss Jakow sieben weitere Jahre lang um Rachel arbeiten. Auf diese Weise lässt die Tora ausgleichende Gerechtigkeit zur Geltung kommen.
Der ständig medienpräsente Satz »Auge um Auge«, als angebliches Prinzip der biblischen Strafe existiert nur durch Luthers Übersetzung. Die Tora lässt höchstens, wie in dieser Erzählung, »List um List« gelten, um der Gerechtigkeit und der Belehrung willen.
Gegen Ende dieser ereignisreichen Parascha bereitet sich Jakow, nachdem er mehr als zwei Jahrzehnte nicht mehr zu Hause war, auf die Rückkehr nach Kanaan vor. Er berät sich mit seinen beiden Frauen, und sie ermuntern ihn in seinem Vorhaben. Sie bekräftigen, dass sie sich, weil ihr Vater so geizig ist, in dessen Haus fremd fühlen.
ENTSCHLUSS Es ist bezeichnend, dass Jakow ohne die Meinung der Frauen keinen Entschluss fassen wollte. Dies geschah nicht im feministischen Geist unseres Jahrhunderts, sondern im patriarchalischen Altertum. Es unterstreicht die jüdische Auffassung, die die Seele des jüdischen Mannes in der Hand der Frau sieht. Die spiritualisierte Rolle der Frau hindert sie nicht daran, ihre Rolle manchmal auch mit List zu erfüllen.
So nimmt Rachel bei der Abreise aus dem Elternhaus die häuslichen Götzen ihres Vaters mit und versteckt sie unter dem Sattel ihres Kamels. Als Lawan das Verschwinden seiner Götzen merkt, verfolgt er seine flüchtigen Kinder und stellt Jakow hart zur Rede, als er sie erwischt: »Was hast du getan, dass du meinen Sinn getäuscht und meine Töchter weggeführt hast wie Kriegsgefangene? Warum bist du heimlich geflohen? … Es steht in meiner Hand, übel mit euch zu verfahren« (31,29).
Jakow antwortet tapfer und greift Lawan an: Er zählt mutig die Qualen seiner 20 Jahre im Hause Lawans auf und wirft sie ihm vor. Von den gestohlenen Hausgöttern hat Jakow keine Ahnung. Daher bietet er Lawan großzügig an, er könne alles durchsuchen. Er werde nichts finden, was ihm gehört.
götzen Also durchsucht Lawan alles, so gründlich er kann. Rachel jedoch hält die Götzen unter ihrem Sattel versteckt. Sie wird diesmal vor dem Vater nicht aufstehen, wie es sich gehört hätte. Sie habe ihre Tage, sagt sie entschuldigend, da könne sie nicht aufstehen. Der Vater akzeptiert die Ausrede, Jakow jedoch wirft Lawan erneut Willkür vor. Ob die Frauen im Zelt angesichts der Überlistung ihres Vaters schmunzelten, wie es einst Sara tat, erwähnt die Tora nicht.
Nachdem die Männer sich durch ihren Streit Luft gemacht haben, schließen sie bei dem Ort Gal-Ed einen Bund: Sie versprechen einander, die Interessen des jeweils anderen nie mehr zu stören.
Der Autor war Landesrabbiner von Württemberg.
inhalt
Der Wochenabschnitt Wajeze erzählt von einem Traum Jakows. Darin sieht er eine Leiter, auf der Engel hinauf- und hinuntersteigen. In diesem Traum segnet der Ewige Jakow. Nachdem er erwacht ist, nennt Jakow den Ort Beit El. Um Rachel zu heiraten, muss er sieben Jahre für ihren Vater Lawan arbeiten. Doch der führt Jakow hinters Licht und gibt ihm Rachels Schwester Lea zur Frau. So muss Jakow weitere sieben Jahre arbeiten, bis er endlich Rachel bekommt.
1. Buch Mose 28,10 – 32,2