Ältere Menschen werden in Deutschland immer relevanter. So steigt der Anteil der »Generation 65 plus« stetig an, immer mehr sind erwerbstätig, und ihre Wahlbeteiligung ist überdurchschnittlich hoch, meldete das Statistische Bundesamt kürzlich. Ältere Menschen sind heute so aktiv wie nie zuvor. Sie wollen am gesellschaftlichen Leben teilhaben: Immer mehr arbeiten im Alter, surfen im Internet und besuchen Kurse an Hochschulen.
Der Blick in die Zukunft zeigt, dass die Bevölkerung künftig noch wesentlich stärker als heute von älteren Menschen geprägt sein wird; in 50 Jahren ist jeder dritte Bundesbürger im Rentenalter. Hinzu kommt die weiter steigende Lebenserwartung. Es gibt also immer mehr Ältere, die auch immer älter werden. Angesichts dieser Entwicklung sollte die Chance gesehen werden, die Fähigkeiten der Älteren weiter zu nutzen und zu fördern, so die Bundesstatistiker.
GENERATION Im Judentum war das Alter schon immer relevant. Dazu braucht man keine Bevölkerungsvorausberechnungen. Man braucht nur entsprechende Werte – die schließlich auch und gerade von der älteren Generation an die Jüngeren vermittelt werden.
In der westlichen Welt herrscht gerade in Bezug auf Arbeit eine Kultur vor, die Jugend idealisiert. Das ist per se kein Fehler, es ist bloß zu einseitig. In der Tat – und in der Tora – ergänzen sich Jugend und Alter wie Himmel und Erde, Dunkelheit und Licht, Pflanzen und Tiere, Mann und Frau, heilig und profan. Kurzum: Sie definieren sich gegenseitig und können nur miteinander und in Ergänzung zueinander zur vollen Entfaltung kommen; ökonomisch effizient ihre Wirkung entfalten, ihr Potenzial ausschöpfen – auch und gerade in der Arbeitswelt.
Die Jugend hat Kraft, das Alter Erfahrung. Neue Besen kehren gut, alte Besen kennen die Ecken. Von dieser Einsicht wird nur eine Hälfte wahrgenommen. Menschlich und ökonomisch entsteht uns allen dadurch ein unermesslicher Schaden. Wie war das früher?
In der Antike war das Alter eine Vorbedingung für Autorität.
WEISHEIT Das griechische »presbuteros« und das lateinische »senatus« entsprechen in etwa dem hebräischen »sakejn«. Das bedeutet »alt«. Aber eben zugleich »weise«. Die Tora erwähnt auch die Weisen Ägyptens und Midians mit diesem Begriff. Sie alle hatten politische Macht, sie sprachen Recht und regelten die gesellschaftliche Ordnung. Im alten Israel standen die Weisen Israels, die Siknej Israel, sogar über dem König.
In der jüdischen Tradition ist sakejn ein Titel, der unseren Weisen verliehen wird – ganz gemäß der Maxime und seiner Umkehrung: Wissen ist Macht. Sprachlich hat »alt« (jaschan) dagegen die gleiche Wurzel wie »schlafen«. Demnach ist alt, wer das Leben verschläft. Im Sinne der Aufklärung somit jemand, der sich nicht traut, sich seines Verstandes zu bedienen, und tatenlos bleibt, ja ohnmächtig – in jedem Alter.
Die Tora fordert zu Taten auf, die das Leben ausfüllen, jeden Tag.
Schon von der Sprache her fordert die Tora also zu Taten auf, die das Leben ausfüllen, jeden Tag. Wenn in der Tora das Alter mit »Tage« umschrieben wird, sind damit die Taten statt die bloße Lebenszeit gemeint. Denn was unser aktives Leben ausmacht, ist, wie wir unsere Zeit ausfüllen. Die Jahre wirken sich mit der Zeit auf uns aus – aber wir können uns jederzeit aktiv auf die Zeit auswirken. So wird Awraham beschrieben als »alt geworden und viel an Tagen fortgeschritten«. Das ist schon »Leben für Fortgeschrittene«.
STATISTIKER Ein Alter wie unsere biblischen Vorväter und -mütter werden wir nun vielleicht nicht erreichen. Die durchschnittliche Lebenserwartung – auch das haben die Statistiker errechnet – liegt derzeit bei Mädchen, die jetzt in Deutschland zur Welt kommen, im Schnitt bei 83 Jahren, bei Jungen sind es 78 Jahre. Tendenz steigend!
Stellt sich doch die Frage, warum wir auf jung machen müssen. Warum bloß? Früher war das doch eine Auszeichnung! Ohne in Spekulation zu verfallen, woran das wohl liegen mag, steht fest: Mit dem Alter lässt die Spannkraft nach – zugleich nimmt die Erfahrung zu. Eine Binsenwahrheit – und dennoch oft nur zur Hälfte wahrgenommen. Schade. Besser wäre, hier das ganze Bild zu sehen: jeden Tag erwachsener zu werden und bis ins hohe Alter Kind zu bleiben. Das ist wahre Lebenskunst. Das kann jeder für sich gestalten – jeden Tag.
Und was ist mit dem zunehmenden Konflikt der Generationen, den zum Beispiel der ewig jung scheinende Modeschöpfer Wolfgang Joop (74) befürchtet? Er meint, die Alten versperren die Möglichkeiten für die Jungen. »Ich bin mir sicher, dass es bald Hass gegen Alte geben wird«, zitierte ihn kürzlich die »Bild«-Zeitung.
CHANCE Da kann man nur nochmals auf die schon eingangs erwähnten Bundesstatistiker verweisen, die raten, die Gesellschaft sollte endlich die Chance sehen, die Fähigkeiten der Älteren weiter zu nutzen und zu fördern.
Ergänzend wäre dieser rabbinische Rat: Unsere westliche Welt kann aus der jahrtausendealten Erfahrung lernen, dass Ältere ihre private und berufliche Lebenserfahrung einbringen können und sollen, ihre Weisheit und Autorität wirken lassen. Im Ergebnis hätten wir Werte, die im Verhältnis zueinander ausgeglichener wären. Und wir alle hätten gewonnen.
Der Autor ist Rabbiner der Henry und Emma Budge-Stiftung.