Wir stehen gerade in Erwartung von Rosch Haschana, dem jüdischen Neujahrsfest. Eine der Hauptideen, auf die wir uns an diesem Feiertag konzentrieren, ist die Erschaffung der Welt. Rosch Haschana ist der Geburtstag der Welt, der Beginn der Zeitrechnung.
Das Judentum stellt sich die Erschaffung der Welt als »Jesch MiAin« – »etwas aus dem Nichts« vor. Der g’ttliche Schöpfungsplan ist in zehn Reden in das Wort G’ttes gekleidet. Aus der großen Leere kommt alles, was geschaffen wird. Jedes Handeln des Menschen zur Verbesserung der Welt zu einem späteren Zeitpunkt ist nicht wie diese Schöpfung, denn der Mensch erschafft etwas aus etwas bereits Bestehendem.
Die ganze, riesige Fülle der Welt wurde ursprünglich jedoch in der Leere und aus der Leere geschaffen. Deshalb ist die Erschaffung der Welt der wahre Anfang. Jedem anderen Anfang, den wir uns vorstellen können, geht bereits etwas voraus. Der Erschaffung der Welt ging nichts voraus.
SCHÖPFUNG Selbst wenn uns die Tora sagt »die Erde war öd’ und wüst, und Finsternis auf der Fläche des Abgrundes und der Geist G’ttes schwebend über der Fläche der Wasser«, beschreibt sie ein bestimmtes Stadium der Schöpfung. Der wahre Anfang davon und mehr noch, was vorausging, kann nicht beschrieben werden. Der wahre Anfang der Schöpfung ist in der Leere verborgen, ist unverständlich.
Die Periode, die wir jetzt erleben – die Zeit der Coronavirus-Pandemie –, ist so etwas wie die ursprüngliche Leere. Wir müssen also verstehen, dass das Rosch-Haschana-Fest, das wir in dieser Zeit feiern, nicht weniger ein Rosch Haschana ist als in jedem anderen Jahr. Vielleicht ist sogar das Gegenteil der Fall.
Die Tatsache, dass wir nicht in der gewöhnlichen Art und Weise in Synagogen beten können, dass wir auch dort in Masken gehüllt bleiben müssen, dass wir andere Einschränkungen der Hygienemaßnahmen im Zusammenhang mit der Pandemie erfahren werden, dass die Synagogen nicht wie gewohnt voller Menschen sein werden, dass wir Unbehagen und Nostalgie für die übliche Erfahrung des Synagogengebets empfinden werden, all dies entfremdet uns nicht so sehr von dem wirklichen Geschmack und der Erfahrung von Rosch Haschana, sondern bringt uns im Gegenteil der ursprünglichen Leere näher.
Wir müssen daran glauben, dass diese langwierige Krise der Beginn eines neuen Lebens, der Beginn neuer Erfahrung sein wird.
Es ist durchaus möglich, dass all diese Unannehmlichkeiten, die halb leeren Synagogen und das verkürzte Gebet, unser Rosch Haschana nicht mangelhaft, sondern tiefer machen. Wir nähern uns der Erschaffung der Welt, wir nähern uns dem Anfang. Wir dürfen nicht verzweifeln!
Wir müssen daran glauben, dass diese langwierige Krise der Beginn eines neuen Lebens, der Beginn neuer Erfahrung sein wird. Und dass wir als jüdisches Volk im Besonderen sowie die gesamte Menschheit als Ganzes in der Lage sein werden, wichtige Lehren und die richtigen Schlussfolgerungen aus dieser Krise zu ziehen, und zu einem gewöhnlichen Leben zurückkehren, nicht wie es vorher war, sondern so, als ob die Welt wieder erschaffen worden wäre.
MIDRASCH Der Midrasch behauptet, dass der Erschaffung unserer Welt die Erschaffung und Zerstörung anderer Welten vorausgegangen sei. Auf diesem Midrasch basiert die kabbalistische Lehre der sogenannten Schmitot, der Sieben-Jahres-Zyklen (die aber in Wirklichkeit 7000-Jahres-Zyklen sind), die besagt, dass unsere Welt nicht die erste ist, sondern dass ihr eine andere Welt vorausgegangen ist. Diese Welt wurde zerstört und eine neue Welt, unsere Welt, wurde auf ihren Trümmern geschaffen. Es war Zeit für Erneuerung, es war Zeit für einen Neustart der Schöpfung.
Der große Kabbalist Rabbi Isaak Luria argumentiert, dass die Doktrin von »Schmitot« nicht wörtlich zu verstehen sei, aber sie beschreibt die Zyklen von Zerstörung und Wiedergeburt als Ganzes, in der Seele jedes Menschen und jeder menschlichen Gemeinschaft.
Jeder globale Kataklysmus, mit all seiner Tragik und Zerstörung, trägt dennoch die Kraft in sich, Leben zu erneuern. Außerdem hat die Krise, die wir jetzt durchmachen, zweifellos das Potenzial für den Beginn einer neuen Entwicklungsrunde gelegt. Es ist aber notwendig, dieses Potenzial richtig auszuschöpfen. Dabei hilft uns Rosch Haschana.
Wenn wir im Gebet vor dem Schöpfer der Welt stehen und verkünden: »HaJom Harat Olam – heute war die Welt geboren«, versinken wir in die ursprüngliche Leere und finden in ihr den Keim einer neuen Schöpfung. Schana towa umetuka!
Rabbiner Yehuda Pushkin aus Stuttgart ist Vorstandsmitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).