Um ein Volk in die Freiheit zu führen, muss der Anführer besondere Eigenschaften besitzen. Er muss ein Mensch sein, der nicht aus Eitelkeit in die Augen des Gegners schaut, um das Volk zu befreien, denn die Leere der Eitelkeit wird schnell entdeckt. Es muss ein Mensch sein, der demütig ist und weiß, dass er nicht allmächtig ist, dem aber auch bewusst ist, dass er bestimmte Eigenschaften und Argumente hat, die ihm bei der Befreiung des Volkes helfen können.
Über Mosche wird erzählt, seine Mutter habe ihn versteckt. Die Tochter des Pharaos findet ihn und nimmt ihn mit in den Palast. Doch dann kommt es zu einem Vorfall, der einen dunklen Schatten auf Mosches Leben wirft. Aber die Tora erzählt uns diese Geschichte. Und obwohl wir wissen, dass die Tora sich nicht scheut, uns mit schwierigen Themen zu konfrontieren, fragen wir uns: Gehört auch diese Geschichte dazu?
Als Jugendlicher sieht Mosche, in welcher Situation sich sein Volk befindet
Mosche wächst im Palast des Pharaos auf. Als Jugendlicher sieht er, in welcher Situation sich sein Volk befindet. Er fühlt sich den Juden verbunden und will wissen, ob es ihnen gut oder schlecht geht. Da sieht er einen Ägypter, der einen Juden schlägt. Mosche schaut sich um, und weil er niemanden sieht, schlägt er den Ägypter tot und vergräbt den Leichnam im Sand.
Diese Erzählung wird oft verharmlost. Aber wir sollten hier »Gewald!« (Jiddisch: Oh weh!) schreien! Was tut Mosche da? Handelt er hier richtig? Am nächsten Tag wird er von einem Juden wegen dieser Geschichte beschimpft, und er bekommt Angst, der Pharao werde ihn zum Tode verurteilen. Und so flieht er aus Ägypten.
Natürlich hat Mosche den Ägypter getötet, so steht es in der Tora. Aber der Midrasch diskutiert, auf welche Weise Mosche ihn getötet hat. Eine Meinung, die auch der berühmte Kommentator Ibn Ezra (1089–1167) für richtig hält, folgt dem Text und erklärt, dass Mosche ihn konventionell tötete. Raschi (1040–1105) hingegen meint, Mosche habe ihn mit seiner spirituellen Kraft durch einen Fluch getötet.
Die Tötung des Ägypters war gerechtfertigt. Es handelte sich um einen ägyptischen Polizisten, der eine jüdische Familie misshandelt hatte. Mosche sah ihn, als er den Juden schlug. Es war, nachdem er den Juden aus seinem Haus geworfen hatte und hineingegangen war und seine Frau vergewaltigt hatte (Raschi 2,11).
Mosches schwer zu erklärende Handlung geschieht, nachdem er sich umgeschaut hatte. Hatte er Angst? Suchte er Hilfe? Hier werden mehrere Szenarien beschrieben. Mosche hatte nicht nur Angst vor dem Ägypter. Mosche erwartete, dass sich die Juden in einem solchen Fall gegenseitig helfen würden. Er schaute sich um, ob vielleicht jemand dem geschlagenen Juden helfen würde. Er war überrascht, dass ihm niemand zu Hilfe kam. Er war enttäuscht, dass sich die Juden nicht umeinander kümmerten.
Hätte Mosche nicht zuerst geschaut, hätten wir ihm eine unüberlegte Handlung vorgeworfen, und zwar, dass er aus dem Bauch heraus reagierte. Doch wenn wir hören, dass Mosche hin und her schaute, verstehen wir, dass er sich gut überlegt hat, wie er seinem jüdischen Bruder helfen kann, und verstand, wie gefährlich es für ihn sein kann, erklärt der Malbim, Rabbi Meïr Löb Wisser (1809–1879).
Mosche wollte den Ägypter vor Gericht bringen
Die dritte Möglichkeit wäre, dass Mosche geprüft hatte, ob er Klage gegen den Ägypter einreichen könnte. Er wollte ihn vor Gericht bringen. Aber nachdem er gesehen hatte, dass Juden in Ägypten keinerlei Rechte haben, verstand er das Ausmaß des Judenhasses und tötete den Ägypter. So interpretiert es der Netziv, Rabbi Naphtali Zvi Yehuda Berlin (1816–1893), in seinem Werk Haamek Dawar.
Je mehr man sich mit dieser Geschichte beschäftigt, desto mehr erkennt man den Versuch der Weisen, Mosche aus der Affäre zu ziehen, oder besser gesagt, uns zu erklären, dass diese Geschichte eine einmalige Aktion ist, die nicht wiederholt werden kann (Tora Tmima 2,12,36). Dennoch schreibt Rabbi Awraham (1186–1237), der Sohn des Rambam, dass wir von Mosche lernen: Die Tugend der Barmherzigkeit darf nicht absolut sein. Mosche vermittelt uns, dass die Barmherzigkeit gegenüber dem Opfer in einem solchen Fall größer sein soll als gegenüber dem Täter und dass die Tötung des Täters Teil unserer Barmherzigkeit gegenüber dem Opfer ist.
Rabbi Jitzchak Karo (15./16. Jahrhundert) argumentiert in Toldot Jizchak, dass Mosches Gerechtigkeitsempfinden ein Zeichen dafür sei, dass er der richtige Anführer für uns Juden sein wird. Er handelt, wenn ein Ägypter einen Juden schlägt, wenn zwei Juden miteinander streiten und auch, wenn Nichtjuden einander Unrecht tun. So soll unser wahrer Anführer sein.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt/Main und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).
inhalt
Der Wochenabschnitt Schemot erzählt von einem neuen Pharao, der die Kinder Israels versklavt. Er ordnet an, alle männlichen Erstgeborenen der Hebräer zu töten. Eine Frau aus dem Stamm Levi will ihren Sohn retten und setzt ihn in einem Körbchen auf dem Nil aus. Pharaos Tochter findet das Kind, adoptiert es und gibt ihm den Namen Mosche. Der Junge wächst im Haus des Pharaos auf. Erwachsen geworden, erschlägt Mosche im Eifer einen Ägypter und muss fliehen. Er kommt nach Midjan und heiratet dort die Tochter des Priesters Jitro. Der Ewige spricht zu Mosche aus einem brennenden Dornbusch und beauftragt ihn, zum Pharao zu gehen und die Kinder Israels aus Ägypten hinauszuführen.
2. Buch Mose 1,1 – 6,1