»Raw Scheschet war ›reich an Licht‹ (blind)«, heißt es im Talmud (Berachot 58a). Als sich die Einwohner seiner Stadt versammelten, um den Sassanidenkönig zu begrüßen, sei auch er mit zur Parade gegangen. »Da sprach ihn ein Minäer an: ›Was sollte wohl ein Blinder bei der Parade sehen können?‹ Raw Scheschet aber entgegnete: ›Komm und sieh, dass ich mehr verstehen werde als du.‹«
Als die erste Kriegerschar unter lautem Getöse vorüberzog, soll der Minäer gesagt haben: »Der König kommt!« Und Raw Scheschet habe erwidert: »Er kommt noch nicht.« Das Gleiche wiederholte sich, als die zweite dröhnende Schar vorüberzog. Nachdem aber die dritte Schar vorübergezogen war und Stille einkehrte, soll Raw Scheschet gesagt haben: »Jetzt kommt der König.«
Das irdische Königtum ähnelt dem himmlischen.
»Da fragte ihn der Minäer, woher er dies wisse. Und Raw Scheschet erklärte: Das irdische Königtum ähnelt dem himmlischen. Über das himmlische lesen wir in der Geschichte vom Propheten Elijahu am Berg Sinai: ›Siehe, der Ewige wird vorüberziehen. Vor dem Ewigen kam ein großer und mächtiger Sturm (…), doch war der Ewige nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Getöse, doch war der Ewige nicht im Getöse. Nach dem Getöse kam ein Feuer, doch war der Ewige nicht im Feuer. Nach dem Feuer aber kehrte ein stilles sanftes Säuseln ein (…)‹«.
Weiter heißt es im Talmud: »Und als der Sassanidenkönig schließlich eintraf, da segnete ihn Raw Scheschet.«
Raw Scheschet wird im Talmud mit dem aramäischen Ausdruck »sagi nahor«, »reich an Licht«, bedacht. Bei dieser Bezeichnung handelt es sich um einen Euphemismus für die berühmte Blindheit dieses Tora-Gelehrten aus der Spätantike. Doch zeigt die Anekdote, dass es allein das physische »Augenlicht« (Tehillim 38,11) war, das ihm abging. Sein Verstand und seine innere Sehkraft waren hingegen ungemindert.
Ältere Beispiele für diese Paarung von äußerer Blindheit mit gesteigerter Geisteskraft sind der biblische Prophet Bilʼam, der nach talmudischer Deutung auf einem Auge blind war (Sanhedrin 105a) und doch über sich selbst sagt, er habe inwendig »enthüllte Augen« (4. Buch Mose 24,4), sowie der thebanische Seher Teiresias.
Jizchaks Altersblindheit hatte verschiedene Gründe.
Doch auch die Patriarchen des jüdischen Volkes waren von einem solchen Verlust der Sehkraft nicht ausgenommen. Sowohl Jizchak als auch Jakow erblindeten im Greisenalter und hatten gerade in diesen letzten Lebenstagen ihre bildreichsten Prophezeiungen.
Im rabbinischen Literaturkanon werden für Jizchaks Altersblindheit verschiedene weitere Gründe angeführt: Zunächst verkannte er die Eigenschaften seiner beiden Söhne, weshalb er fälschlicherweise Esaw ausersah und ihm statt Jakow, dem tugendhafteren von beiden, den Segen Awrahams geben wollte. Wie er also den unterschiedlichen Charakterzügen seiner Kinder gegenüber blind war, traf ihn die körperliche Blindheit als Spiegelstrafe der Vorsehung (Megilla 28a, auch Nedarim 20a).
Des Weiteren wird vermutet, dass Jizchak, als er auf dem Berg Moria von seinem Vater gebunden wurde, zu ausführlich hinauf in den Himmel blickte und deshalb allmählich sein Augenlicht verlor, weil er den Engel heruntereilen sah und die Tränen der trauernden himmlischen Scharen auf ihn hinabtröpfelten. Auf ähnliche Weise wurden auch die Einwohner von Sedom durch den Kontakt mit Engeln geblendet (1. Buch Mose 19,11 und Chagiga 16a).
Doch nicht nur Raw Scheschet und viele unserer Vorfahren waren blind. Nach den Worten des Midrasch in Bereschit Rabba 53,19 ist jeder Mensch in einem gewissen Sinne blind: »Alle gelten als Blinde. Bis wann? Bis der Heilige, gelobt sei Sein Name, ihre Augen öffnet, wie Er der Hagar den Brunnen zeigte.« Denn obwohl der wasserspendende Brunnen seit jeher in der Wüste war, vermochte die durstende Hagar ihn doch nicht zu sehen, bis der richtige Zeitpunkt gekommen war. Ganz so erkannte auch Awraham, als er seinen Sohn Jizchak band, erst spät den Widder – und ebenso Adam und Chawa ihre Nacktheit im Garten Eden.
So war es denn auch die Hoffnung unserer Weisen, dass in der messianischen Zukunft alle Formen der Blindheit, körperliche wie geistige, verschwinden mögen, »denn Ich bin der Ewige, dein Arzt« (2. Buch Mose 15,26).