Lord Jonathan Sacks, ein ausgebildeter Philosoph, der von 1991 bis 2013 in London als Oberrabbiner der United Hebrew Congregations of the Commonwealth amtierte, hat zwei Dutzend Bücher verfasst. Seine Studie über den Kampf der Kulturen ist 2007 auch in deutscher Sprache erschienen, und zurzeit wird sein ausgezeichneter Kommentar zum Siddur erfreulicherweise ins Deutsche übersetzt.
Gesellschaft Doch in seinem neuen Werk, das der Autor wegen einer Erkrankung derzeit nicht persönlich vorstellen kann, wendet sich Sacks nicht in erster Linie an ein jüdisches Publikum. Dieses Buch wurde für diejenigen geschrieben, die besser begreifen wollen, welche Probleme westlichen Gesellschaften in der Gegenwart zu schaffen machen. Dem Autor geht es also um eine Diagnose und Kritik unserer heutigen Kultur.
Beeindruckend viele sozialphilosophische, soziologische, politologische und nationalökonomische Studien hat Sacks gelesen, die er allgemeinverständlich zusammenfasst. Das leserfreundlich ausgebreitete Material, aufgelockert durch Anekdoten und Witze, dient ihm zur Stützung seiner These, dass die Entwicklung in den Ländern des Westens in den letzten Jahren einen nicht ungefährlichen Weg eingeschlagen hat.
Er spricht sogar davon, dass die liberale Demokratie, der wir alle so viel zu verdanken haben, ernsthaft in Gefahr sei. Sacks ist aber keineswegs ein miesepetriger Kulturpessimist; im Gegenteil, er glaubt, dass wir durch eine Kurskorrektur den Zerfall der freiheitlichen Ordnung durchaus verhindern können.
Praxis Der Autor meint, dass Wirtschaft und Staat nur dann richtig funktionieren können, wenn bei den Mitwirkenden eine moralische Einstellung – das heißt, Sorge für andere Menschen – vorhanden ist, die sich in der sozialen Praxis auswirkt. So könne zum Beispiel eine Bank ohne Berücksichtigung der Interessen ihrer Mitarbeiter auf die Dauer nicht bestehen. Merksatz: »Der Markt braucht eine gewisse Moral!«
Aus der Diagnose, dass in den letzten Jahrzehnten eine folgenreiche Verschiebung der »Wir-Einstellung« zu einer »Ich-Einstellung« stattgefunden hat, ergibt sich ein Rezept für die nun erforderliche Therapie der Gesellschaft: Man sollte sich jetzt um eine Stärkung der Wir-Einstellung bemühen. Jeder von uns kann durch eine Änderung seiner sozialen Haltung einen Beitrag zur Verbesserung der Gesellschaft leisten! Dass ein gesteigerter Individualismus für die Freiheit in einer Demokratie eine große Gefahr darstellt, hat der Historiker Alexis de Tocqueville schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bemerkt.
Gemeinden Welche Rolle spielt die Religion im Rahmen der vorgeschlagenen Gesellschaftstherapie? Der Verfasser verweist auf die Feststellung des französischen Soziologen Émile Durkheim, dass jede Religion Gemeinden schafft. Zugehörigkeit zu einer durch bestimmte Werte geprägten Gemeinde ist wichtig für die Entwicklung einer Wir-Einstellung.
Rabbiner Sacks führt aus, dass die soziale Bedeutung der Religion darin besteht, dass sie uns von der existenziellen Einsamkeit erlöst und uns den Weg zu anderen Geschöpfen und zur Welt weist. Daher kann man sagen, dass jede praktizierte Religion hilfreich ist, wenn es darum geht, den heute gefährdeten demokratischen Staat zu retten.
Aus dem neuen Buch von Sacks wird jeder Leser sehr viel Neues erfahren, und zwar über ganz verschiedene Themen. Nur einige der besprochenen Phänomene seien erwähnt: politische Unruhen, Populismus, Extremismus, Verlogenheit, Einsamkeit, Unzufriedenheit, Drogenmissbrauch, Selbstmorde, Einschränkung der akademischen Freiheit. Von der außergewöhnlichen Belesenheit des Autors kann jeder profitieren. Die lange Literaturliste ermöglich dem Leser eine Vertiefung in solche Fragen, die ihn besonders interessieren.
Werk Wie bedankt sich ein Rezensent für ein lehrreiches Werk? Indem er eine kritische Randbemerkung notiert. Ein Verfasser, der an vielen Stellen Kritik übt, wird sich über den Hinweis auf einen Fehler, der ihm unterlaufen ist, sicher freuen.
Rabbi Sacks meint, Sigmund Freuds Determinismus bedeute, die Willensfreiheit des Menschen sei eine Illusion (S. 246). Er wiederholt mit dieser Behauptung eine populäre Ansicht, deren Unrichtigkeit der Schreiber dieser Zeilen schon vor 40 Jahren in der amerikanischen Fachzeitschrift »Journal of Psychology and Judaism« bewiesen hat. Sacks könnte sich in seinem Plädoyer für die menschliche Willensfreiheit auf Freud berufen.
Rabbi Jonathan Sacks: »Morality. Restoring the Common Good in Divided Times«. Hodder & Stoughton, London 2020, 384 S.