Familie

Auf Söhne fixiert

Klein-Ödipus: Auch heute neigt manche Mutter dazu, ihren Sohn mehr zu lieben als ihre Tochter. Foto: fotolia

Mit dem Wochenabschnitt Wajechi endet das erste Buch Moses. Jakow liegt auf dem Sterbebett und segnet seine zwölf Söhne sowie die beiden Enkel Ephraim und Menasche, Josefs Söhne. Aber was ist mit den Töchtern? Bekommen die etwa keinen Segen?

Die Tora erzählt uns nicht viel über Jakows Töchter. Nur Dina wird erwähnt. Immerhin ist sie das siebte Kind der Lea – nachdem diese bereits sechs Söhne geboren hat. Die Zahl sieben weist im Tanach stets auf etwas Besonderes hin. Sie symbolisiert Vollendung: Der siebte Tag, der Schabbat, vollendet und heiligt die Schöpfung. Ebenso vollendet Dina als siebtes Kind die Geburten Leas.

»Da sprach Lea: Gott hat mich beschenkt mit einem schönen Geschenk. Nunmehr wird mein Mann mich hochhalten, denn ich habe ihm sechs Söhne geboren. Und sie nannte ihn Sebulun. Darauf gebar sie eine Tochter und nannte sie Dina« (1. Buch Moses 30, 20-21).

Mit der Vollendung eröffnet sich die neue Wendung. Unmittelbar nach Dinas Geburt, so erzählt uns die Tora, gebiert Rachel ihren so lang ersehnten ersten Sohn: Josef.

Weil Dina ein Mädchen ist, gerät ihre Mutter Lea nicht in Konkurrenz mit Rachel. Dinas Geburt steht außerhalb des fürchterlichen Wettkampfes zwischen den beiden Schwestern. Dadurch, dass Dina auf die Welt kommt, scheinen sich die Dinge obendrein zu ändern. Plötzlich wird die unfruchtbare Rachel doch noch fruchtbar.

Prototyp Der Talmud berichtet uns, dass Dina zur besonderen Tochter ihres Vaters wird. Jakow und Dina bildeten dabei den Prototyp einer Vater-Tochter-Beziehung. Söhne gehen mit der Mutter, Töchter mit dem Vater – so interpretierten die Rabbinen den Vers: »Das sind die Söhne Leas, die sie Jakow gebar in Paddan Aram, und seine Tochter Dina« (46,15). Die Söhne gehörten zu Lea; Dina aber war seine, Jakows, Tochter.

Auch Awraham habe sich, wie der Talmud nahelegt, insgeheim eine Tochter gewünscht. Mag sein, dass er unter dem gesellschaftlichen Druck, einen männlichen Stammhalter hervorzubringen, auf die Geburt eines Sohnes fixiert war. Sein tieferer Wunsch aber war eine Tochter. Die habe er am Ende auch bekommen. Dies besagt der Satz: »Awraham war alt und betagt, und der Ewige hatte ihn in allem (bakol) gesegnet« (1. Buch Moses 24,1).

Der Talmud sagt hierzu: »Awraham hatte eine Tochter namens Bakol« (Bawa Batra 16b). Die Rabbinen vervollständigten den Namen zu »Bat kol« – »Tochter«, beziehungsweise »Krönung von allem«.

Über Awrahams Tochter erfahren wir nichts. Über Dinas eigene Aktivitäten steht nur ein einziger Satz in der Tora. Dieser ist sehr bezeichnend. Unmittelbar nachdem Jakows Sippe nach Kanaan zurückgekehrt war und sich Jakow und Esaw versöhnt hatten, heißt es: »Und Dina, die Tochter Leas, die sie dem Jakow geboren, ging aus, um sich unter den Töchtern des Landes umzusehen« (34,1). Dina konkurriert weder mit ihren Brüdern, wie etwa Josef dies tut, noch orientiert sie sich an den männlich geprägten Kulturen Kanaans. Sie interessiert sich vielmehr für das Leben der dortigen Frauen, für deren Kultur und Bräuche.

Dieses Interesse wird jedoch zum Auslöser eines grausamen, blutig endenden Dramas: Sichem, ein kanaanitischer Fürstensohn, vergewaltigt Dina. Um die geschändete Ehre der Familie wiederherzustellen, töten Dinas Brüder Schimon und Levi aus Rache alle Einwohner der Stadt Sichems. Was Dina damals für Sichem empfand, wie sie über das Blutbad dachte und wie es ihr weiter erging, das alles erfahren wir nicht. Nur, dass ihr Vater, Jakow, dieses Blutbad nicht gutgeheißen hat. In seinem Segen verflucht er Schimon und Levi.

Ausschluss War es wirklich ein Segen, was wir als »Jakows Segen« bezeichnen? In der feministischen Literatur wird immer wieder festgestellt, dass Dina darin nicht mit eingeschlossen war. Aber vielleicht war gerade das der Segen – von Jakows Worten verschont geblieben zu sein. Wenn wir diese genauer betrachten, bekommen fast alle Söhne eher kritische letzte Sätze mitgeteilt. Schimon und Levi werden als Gewalttäter dargestellt. Auch die anderen Brüder müssen fortan mit einem eher ambivalenten Segen leben. Nur Jehuda, Josef und die beiden Enkel Efrajim und Menasche kommen in Jakows Vermächtnis gut weg.

In der jüdischen Tradition entwickelt der Segen eine eigene Kraft. Er lebt durch die Generationen fort. Wie man gesegnet worden ist, so gibt man den Segen weiter. In Awraham sind alle Völker – im Positiven durch Gott – gesegnet. Dieser Segen enthält ein unbedingtes Ja zum Leben aller Völker. Jakows Segen hingegen enthält Schuldzuweisungen und abschätzige Worte.

Was die Eltern den Kindern als letzte Botschaft mitgeben, hat Folgewirkungen. Wer von seinen Eltern schlecht gesegnet, vielleicht sogar verflucht worden ist, muss damit sein weiteres Leben lang ringen. Das spiegelt sich auch im Tanach wider. Im späteren Richterbuch lesen wir von vielen Konflikten zwischen den israelitischen Stämmen.

Zwillinge Nach der Vorstellung der Rabbinen im Midrasch hatte jeder der zwölf Söhne jeweils eine Zwillingsschwester. Diese sei im Segen für den Bruder mit eingeschlossen. Dina habe jedoch als einzige von Jakows Töchtern keinen Zwillingsbruder gehabt. Das machte sie zu einer besonderen Frau. Deshalb wird ihr Name in der Tora überhaupt erwähnt.

Wir sind geneigt, der patriarchalen Gesellschaft von damals die Schuld zu geben, dass das Andenken vieler Frauen in der Tora verdrängt worden ist. Aber vielleicht liegt ein Grund dafür, warum im Tanach so wenige Geschichten über Frauen erzählt werden, darin, dass auch die Mütter in ihrer Fixierung auf Söhne es versäumt haben, ihre Töchter zu segnen. Das einzige Mal, dass eine Mutter eine Tochter im Positiven segnet – nämlich Naomi ihre Schwiegertochter Ruth –, produziert sofort eine spannende Geschichte. Und was für eine! Aus Ruths Kindern geht später König David hervor – und damit eines Tages der Messias.

Welchen anderen Verlauf hätte der Tanach vielleicht genommen, wenn schon Lea ihre ganz besondere Tochter Dina gesegnet und ihr damit eine aktivere Rolle in den biblischen Erzählungen ermöglicht hätte – und wenn uns diese auch aus Jakows Segen widerhallen würde? Dina hatte sicherlich das Zeug dazu, einen eigenen Stamm zu gründen. Das, was mit ihr hätte beginnen können – eine Frauentradition vielleicht –, ist schon im ersten Ansatz zunichte gemacht worden.

Die Tora erzählt uns nicht nur Gutes über unser Volk. Bisweilen bekommt man den Eindruck, sie erzählt uns schreckliche Geschichten, damit wir uns empören und es anders machen. Das Nichtsegnen von Dina könnte eine solche Geschichte sein.

Die Autorin ist Rabbinerin des Egalitären Minjans in Frankfurt am Main.

Inhalt
Im Wochenabschnitt Wajechi segnet Jakow die Enkel Efrajim und Menasche. Seine Söhne versammeln sich um sein Sterbebett, und an jeden von ihnen wendet er sich mit letzten Segensworten. Jakow stirbt und wird einbalsamiert. Seinem Wunsch entsprechend wird er in der Höhle Machpela in Hebron beigesetzt. Josef verspricht seinen Brüdern, nun für sie zu sorgen. Später dann, bevor auch Josef stirbt, erinnert er seine Brüder daran, dass Gott sie in das versprochene Land zurückführen wird. Wenn sie dorthin zurückkehren, sollen sie seine Gebeine mitnehmen. Am Ende der Parascha Wajechi, die zugleich auch das Ende des ersten Buches der Tora ist, stirbt Josef im Alter von 110 Jahren.
1. Buch Moses 47,28 – 50,26

Chol Hamoed

Nur Mosche kannte die Freiheit

Warum das Volk Israel beim Auszug aus Ägypten ängstlich war

von Rabbinerin Yael Deusel  17.04.2025

Geschichte

Waren wir wirklich in Ägypten?

Lange stritten Historiker darüber, ob die Erzählung vom Exodus wahr sein könnte. Dann kamen die Archäologen

von Rabbiner Igor Mendel Itkin  17.04.2025

Berlin

Berlin: Gericht bestätigt fristlose Kündigung von Rabbiner

Das Berliner Arbeitsgericht hat die fristlose Kündigung eines Rabbiners wegen sexueller Belästigung eines weiblichen Gemeindemitglieds bestätigt

 16.04.2025

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 11.04.2025

Feiertage

Pessach ist das jüdische Fest der Freiheit - und der Frauen

Die Rolle und Verdienste von Frauen würdigen - dafür ist Pessach eine gute Gelegenheit, sagen Rabbinerinnen. Warum sie das meinen und welchen Ausdruck diese Perspektive findet

von Leticia Witte  11.04.2025

Exodus

Alle, die mit uns kamen …

Mit den Israeliten zogen noch andere »Fremde« aus Ägypten. Was wissen wir über sie?

von Sophie Bigot Goldblum  11.04.2025

Zaw

Das Volk der Drei

Warum zwischen Priestern, Leviten und gewöhnlichen Israeliten unterschieden wurde

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  11.04.2025

Stärke

An den Prinzipien festhalten

In der Haggada heißt es, dass Juden in jeder Generation Feinde haben werden. Klingt entmutigend? Soll es nicht!

von Rabbiner Raphael Evers  11.04.2025

Talmudisches

Ägypten

Was unsere Weisen über das Land des Auszugs der Israeliten lehrten

von Chajm Guski  11.04.2025