Zensus

Auf jeden kommt es an

Es liegt an jedem Einzelnen von uns, ob wir die Mentalität der Sklaverei schließlich überwinden können. Foto: Thinkstock

Diese Woche beginnen wir bei der Toralesung mit einem neuen Buch: Bemidbar (hebräisch: »In der Wüste«). In seiner Einleitung zu Bemidbar stellt der Kommentator Abarbanel (1437–1508) das Buch in den Zusammenhang der bisherigen Bücher der Tora: In Bereschit, dem 1. Buch Mose, lesen wir von der Erschaffung der Welt, von unseren Urvätern und -müttern sowie der Bildung des jüdischen Volkes. Das 2. Buch Mose (Schemot) handelt vom Exil in Ägypten und dem Auszug von dort. Um die Aufgaben der Kohanim (Priester) und den Beginn des Ritus im Heiligtum geht es im 3. Buch Mose (Wajikra). Bemidbar, das 4. Buch Mose, konzentriert sich nun auf den Weg nach Eretz Israel, auf Mosches Führungsstil und die Bedingungen der Wanderschaft.

Interessanterweise geht die eigentliche Wüstenwanderschaft erst jetzt richtig los, also mehr als eineinhalb Bücher der Tora nach der Geschichte vom Auszug aus Ägypten. Das heißt, ein Großteil der 40 Jahre in der Wüste ereignen sich erst jetzt in Bemidbar. Doch diese Zeit in der Wüste (vom Sinai über den Negev bis zum Ostjordanland) ist mehr als eine physische Reise. Sie zeigt, wie sich eine Gruppe befreiter Sklaven zum Volk Israel entwickelt, das aus einer neuen, starken Generation erwächst und sowohl physisch als auch spirituell bereit ist, das Land Israel zu erobern und zu besiedeln.

Dabei ist sehr wichtig, dass G’tt seinen Glauben an das jüdische Volk niemals aufgibt und den Bund immer wieder bestätigt – trotz einiger Rückschläge während der Wüstenwanderung. Ganz im Gegenteil scheint es, als brauchte Israel diese Entwicklung, um sich seiner Heiligkeit bewusst zu werden und die speziellen Verpflichtungen anzunehmen, die aus seiner Erwählung erwachsen.

Generationen Ich habe mich immer gewundert, warum die Israeliten 40 Jahre in der Wüste sein mussten, bis sie schließlich ins Land Israel einziehen durften. Von der Strecke her hätte diese Reise doch in viel kürzerer Zeit bewältigt werden müssen. Erst als ich Rabbiner in Osteuropa wurde und mich intensiver mit den Gesellschaften der ehemals kommunistischen Länder auseinandersetzte, wurde mir klar, dass grundlegende Veränderungen in einer Gesellschaft ihre Zeit brauchen. Zwei Generationen sind mindestens nötig, um die Mentalitätsänderung von der Sklaverei zur Freiheit zu erreichen. In Bemidbar, wie auch in den postkommunistischen Ländern, sehen wir, dass dies nicht nur lange dauert, sondern dass es auch Rückschläge gibt, und dass erst eine neue Generation, die nicht mehr im alten System aufgewachsen ist, schlussendlich das Neue erschaffen kann.

Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808– 1888) erklärt dies sehr gut in seiner Einleitung zu Bemidbar: Während das Ende von Schemot und das ganze Buch Wajikra ein Idealbild der Heiligkeit beschreiben, das so im Leben des Einzelnen und des ganzen Volkes seine Verwirklichung finden sollte, kommen wir mit Bemidbar wieder zurück in eine Lebensrealität, in der dieses Ideal eben noch nicht umgesetzt worden ist. Vom Weg dorthin handelt dieses 4. Buch Mose.

Stiftszelt Der heutige Wochenabschnitt beginnt mit einer detaillierten Beschreibung der Ordnung des Lagers und aller Stämme. In der Mitte ist immer das Stiftszelt, das mobile Heiligtum. Laut Nachmanides, dem Ramban (1194–1270), ist das Stiftszelt eine Erinnerung an den Berg Sinai, auf dem Mosche die Tora gegeben wurde. Dies bedeutet, dass G’ttes Präsenz nun (im spirituellen Sinne) vom Sinai zum Stiftszelt hinüberwechselt und dort weiterhin mit Mosche kommuniziert und dem Volk in Form einer Wolke anzeigt, wann es lagern und wann es aufbrechen solle.

Zusätzlich weist G’tt eine Volkszählung an, wie es heißt (4. Buch Mose 1, 1–3): »Und der Ewige redete zu Mosche (...): Nehmt die Summe (...) des Volkes Israel (...) mit den Zahlen ihrer Namen, alles Männliche von 20 Jahren und darüber, jeder, der in der Lage ist, in den Krieg zu ziehen.« Die Frage ist, warum so eine Volkszählung nötig ist, da vor nicht langer Zeit – im Zusammenhang mit dem Bau des Stiftszelts (2. Buch Mose 30) – das Volk Israel bereits gezählt wurde.

Raschbam (1085–1174) erklärt dies ganz pragmatisch mit militärischen Notwendigkeiten. Das erscheint logisch, da nur Männer über 20 gezählt werden und beispielsweise Leviten, die aufgrund ihres Dienstes im Stiftszelt vom Militärdienst befreit sind, nicht mitgezählt werden (4. Buch Mose 1, 49–50).

Segen Die Details der Volkszählung lassen aber auch moralische und mystische Gründe erkennen. Der Ramban vermutet, dass es ein Zeichen von G’ttes Gnade ist, weil es zeigt, wie das Volk Israel von nur 70 Personen – so viele kamen nach Ägypten – um eine derart große Zahl angewachsen ist, auch wenn es in der Zwischenzeit eine Pest gab. Jede Person, die gezählt wurde, erhielt außerdem einen persönlichen Segen von Mosche und Aharon, und jeder Einzelne sollte an ihnen vorbeigehen.

Jizchak Arama, der Baal Akeda (1460–1494), hat diese Idee weitergedacht und schreibt: »Sie (wurden nicht gezählt) wie Tiere oder Objekte, sondern jeder hatte eine ganz eigene Bedeutung, wie ein König oder Priester, und G’tt hat ihnen eine besondere Liebe gezeigt, und das ist die Bedeutung des Erwähnens eines jeden von ihnen mit Namen und Status, denn sie waren alle gleich und individuell in ihrem Status.«

Das zeigt, dass jeder Einzelne wichtig ist und wir alle gleich sind. Alle Jüdinnen und Juden sind wichtig für das Gelingen unserer Mission als auserwähltes, heiliges Volk. Das Judentum lehnt Ideologien wie den Faschismus oder den Kommunismus ab, in dem nur die Masse wichtig ist und sich das Individuum unterzuordnen hat. Es liegt an jedem Einzelnen von uns, ob wir die Mentalität der Sklaverei schließlich überwinden können und die Freiheit annehmen. Jeder Mensch, jede Seele ist wie eine Welt für sich. Daher müssen wir alle Menschen mit Respekt und Ehre behandeln.

Der Autor ist Assistenzrabbiner der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich.

Inhalt
Am Anfang des Wochenabschnitts Bemidbar steht die Zählung aller wehrfähigen Männer, mit Ausnahme der Leviten. Sie sind vom Militärdienst befreit und nehmen die Stelle der Erstgeborenen Israels ein. Ihnen wird der Dienst im Stiftszelt übertragen. Bei ihnen soll von nun an jedes Erstgeborene ausgelöst werden. Zudem wird geregelt, welche Familien für den Auf- und Abbau des Stiftszelts verantwortlich sind.
4. Buch Mose 1,1 – 4,20

Chanukka

Wie sah die Menora wirklich aus?

Eine Rekonstruktion von Rabbiner Dovid Gernetz

von Rabbiner Dovid Gernetz  25.12.2024

Resilienz

Licht ins Dunkel bringen

Chanukka erinnert uns an die jüdische Fähigkeit, widrigen Umständen zu trotzen und die Hoffnung nicht aufzugeben

von Helene Shani Braun  25.12.2024

»Weihnukka«?

Chanukka und Weihnachten am selben Tag

Ein hohes christliches und ein bekanntes jüdisches Fest werden am 25. Dezember gefeiert

von Leticia Witte  24.12.2024

Rheinland-Pfalz

Volker Beck kritisiert Verträge mit Islam-Verbänden

Zu den Partnern des Bundeslandes gehören jetzt Ditib, Schura und Ahmadiyya Muslim Jamaat

 22.12.2024

Hessen

Darmstadt: Jüdische Gemeinde stellt Strafanzeige gegen evangelische Gemeinde

Empörung wegen antisemitischer Symbole auf Weihnachtsmarkt

 19.12.2024 Aktualisiert

Debatte

Darmstadt: Jetzt meldet sich der Pfarrer der Michaelsgemeinde zu Wort - und spricht Klartext

Evangelische Gemeinde erwägt Anzeige wegen antisemitischer Symbole auf Weihnachtsmarkt

 19.12.2024

Hessen

Nach Judenhass-Eklat auf »Anti-Kolonialen Friedens-Weihnachtsmarkt«: Landeskirche untersagt Pfarrer Amtsausübung

Nach dem Eklat um israelfeindliche Symbole auf einem Weihnachtsmarkt einer evangelischen Kirchengemeinde in Darmstadt greift die Landeskirche nun auch zu dienstrechtlichen Maßnahmen

 19.12.2024

Wajeschew

Familiensinn

Die Tora lehrt, dass alle im jüdischen Volk füreinander einstehen sollen – so wie Geschwister

von Rabbiner Jaron Engelmayer  19.12.2024

Berlin

Protest gegen geplantes Aus für Drei-Religionen-Kita

Im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ist demnach ein Lernort geplant, in dem das Zusammenleben der verschiedenen Religionen von frühester Kindheit an gelebt werden soll

 16.12.2024