Es ist ein jahrhundertealter Brauch, sich an einem der beiden Tage von Rosch Haschana ans Wasser zu begeben, um sich von den Vergehen des letzten Jahres zu befreien. Dabei bitten wir den Ewigen, Er möge unsere Schuld in die Tiefe der Meere werfen.
Dieser weit verbreitete Brauch hat seinen Ursprung beim Propheten Micha. Er richtet in den letzten Versen seiner Prophezeiung eine Fürbitte an den Ewigen: »Wer ist ein G’tt wie Du? Der Missetat vergibt und die Abtrünnigkeit übersieht (...). Nicht für immer hält Er seinen Zorn an, denn an Gnade hat Er Gefallen. Wiederum wird Er sich unser erbarmen, wird unterdrücken unsere Schuld; ja, Du wirst in die Tiefen des Meeres werfen all ihre Sünden.«
Dieser Brauch wird Taschlich genannt, nach dem Wort aus dem Vers des Propheten, das mit »werfen« oder »schleudern« übersetzt wird. Taschlich wird von den meisten sehr ernst genommen. Viele Juden bleiben lange am Ufer des Gewässers stehen und sprechen ihre Fürbitten langsam und mit Hingabe. Und es ist auch verständlich, warum, denn an Rosch Haschana wird über jedes einzelne Geschöpf gerichtet, indem seine guten Taten des Vorjahres gegen die schlechten Taten abgewogen werden. Vom Urteil hängt das Leben für das nächste Jahr stark ab. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, am Tag des Gerichts dafür zu beten, dass der Ewige unsere Missetaten in die Tiefen der Meere werfen und sie somit verschwinden lassen soll.
Midrasch Taschlich ist ein relativ junger Brauch im Judentum. Er wird das erste Mal im 14. Jahrhundert im Buch der Bräuche des Maharil, Rabbi Jaakov Halevi Ben Mosche Molin, erwähnt. Der Autor bezieht sich dabei auf den Midrasch, der uns von Awrahams Reise zum Berg Morija berichtet, wo er auf Geheiß G’ttes seinen Sohn Jizchak opfern sollte. Diese Geschichte soll sich zu Rosch Haschana zugetragen haben. In Erinnerung daran blasen wir das Schofar, das Widderhorn. Denn ein Widder wurde schließlich anstelle von Jizchak geopfert.
Auch weniger Bekanntes erfährt man aus dem Midrasch, nämlich, dass der Satan mit allen Mitteln versucht hat, die beiden aufzuhalten und sie daran zu hindern, das Gebot des Ewigen zu erfüllen. Dabei verwandelte der Satan sich in einen reißenden Fluss. Awraham und Jizchak blieb nichts anderes übrig, als ins Wasser zu springen und zu versuchen, den Fluss zu überqueren. Als die beiden schon sehr tief im Wasser standen und Awraham sah, wie gefährlich die Lage wurde, erhob er seine Augen gen Himmel und rief: »Errette uns, Ewiger, denn Wasser kam bis zur Seele! Sollte ich mit Jizchak ertrinken, wer wird Deinen Namen in der Welt bekannt machen?«
Daraufhin rettete der Ewige Awraham und Jizchak. Deswegen, so folgern die Weisen, begeben wir uns an Rosch Haschana zum Wasser. Wir erinnern den Ewigen an unsere Vorväter Awraham und Jizchak, die beinahe ihr Leben im Wasser ließen, um das Gebot des Ewigen zu erfüllen.
In den Schriften der Weisen lässt sich die Einteilung der Eigenschaften unserer Vorväter Awraham, Jizchak und Jakow finden. Awraham wird die Eigenschaft von Chesed (Gnade, Wohltätigkeit) zugeschrieben, Din (Gesetz, Recht) seinem Sohn Jizchak und Emet (Wahrheit) dessen Sohn Jakow. Der Ewige hat in sich all diese Eigenschaften vereint und handelt auch dementsprechend.
eigenschaften Die verschiedenen Eigenschaften des Ewigen lassen sich am besten erkennen an den Stellen im Tanach, an denen es besonders um einen Neubeginn im Zusammenhang mit Wasser geht. So ließ der Ewige zum Beispiel bei der Erschaffung der Welt und der Entstehung des Lebens die Eigenschaft der Gnade noch vor der Eigenschaft des Gesetzes zum Tragen kommen. Nur so konnte der Mensch erschaffen werden. Laut Midrasch widersprach die Eigenschaft des Gesetzes eigentlich der Erschaffung des Menschen.
Bei der Sintflut war es jedoch genau umgekehrt. Damals trat die Eigenschaft des Gesetzes und des Rechts in den Vordergrund, und alles Lebende bis auf Noachs Familie wurde bestraft. Die Weisen der Kabbala beschreiben, dass bei der Überquerung des Schilfmeers die Eigenschaften der Gnade und des Gesetzes vereint auftraten. Denn wo für die Israeliten die Spaltung des Schilfmeers den Neubeginn als freies Volk bedeutete, brachte dieselbe Spaltung den Ägyptern die Strafe und den Tod.
Doch das war nicht das erste Mal, dass die Eigenschaften der Gnade und des Gesetzes zusammen wirkten. Das war auf der Reise von Awraham und Jitzchak schon einmal der Fall. Beide kämpften um ihr Leben in der Strömung des Flusses. Dabei trat der Satan als Befürworter des Gesetzes auf und der Ewige als Befürworter der Gnade. Es stellt sich die Frage, warum sich der Satan gerade bei dieser, einer der letzten Prüfungen Awrahams, ins Geschehen einmischte.
sünder Bekannt ist, dass der Satan als Ankläger gegen die Menschen vor G’tt auftritt und mit ganzer Härte die Bestrafung der Sünder fordert – mit dem Ziel, in der Welt die Eigenschaft des Gesetzes walten zu lassen. Der Ewige bestimmte aber, dass Awraham seinen Sohn Jizchak auf dem Altar binden sollte. Das führte dazu, dass letzten Endes nur die Eigenschaft der Gnade auf der Welt sein sollte. Deswegen ist der Satan gerade bei dieser Prüfung eingeschritten und stellte Hindernisse in den Weg.
Und genauso verfahren wir mit Satan an Rosch Haschana. Den ganzen Monat Elul blasen wir Schofar, und der Ankläger fordert täglich, vor dem himmlischen Gericht angehört zu werden. Aber er wird verwiesen, denn es ist noch nicht Rosch Haschana.
Am Vorabend von Rosch Haschana hören wir auf zu blasen. Der Satan glaubt, Rosch Haschana sei vorbei und denkt nicht mehr daran, das Gericht aufzusuchen. Außerdem gehen wir zum Wasser und erinnern den Ewigen wie Satans Eingreifen in das Geschehen an Rosch Haschana vor Tausenden von Jahren für Awraham und Jizchak fast den Tod bedeutet hätte. Wenn wir noch bedenken, dass Awraham nicht nur für Juden als Vorvater gilt, sondern für viele andere Völker auch, dann bekommt die Tat des Anklägers ganz andere Ausmaße.
Beim Taschlich erwähnen wir auch die Feststellung des Propheten über die Art, wie der Ewige handelt: »Nicht für immer hält Er seinen Zorn an, denn an Gnade hat Er Gefallen.« Wir machen damit deutlich, dass den Neubeginn nur begrenzter Zorn und Gefallen an der Gnade garantieren können.
liturgie Im berühmten Gebet »Untane Tokef«, das auf Rabbi Amnon aus Mainz (10. Jahrhundert) zurückgeht und den integralen Teil der Rosch-Haschana-Liturgie bildet, werden nur zwei von drei Eigenschaften erwähnt: dass am großen und heiligen Tag von Rosch Haschana der Thron des Ewigen auf Gnade gegründet ist und dass der Ewige auf ihm in Wahrheit thront.
Wahrheit ist die Eigenschaft von Jakow. Interessant zu erwähnen wäre auch, dass die Tora im 1. Buch Mose 22,23, gleich nach der Geschichte von der Bindung Jitzchaks, von der Geburt Riwkas berichtet, Jizchaks künftiger Frau, die später Jakow auf die Welt bringen wird. Und auch der Prophet Micha beendet seine Prophezeiung 7,20 mit den Worten »gibst Wahrheit Jakow und Gnade Awraham, wie du es unsern Vätern zugeschworen seit Urzeittagen«.
Der biblische Kommentator Radak, Rabbi David Kimchi, sieht in diesem Vers eine weitere Fürbitte des Propheten, der Ewige soll in Wahrheit (also wirklich) sein Versprechen, das Er Awraham nach der Bindung Jizchaks gegeben hat, gegenüber Jakow erfüllen – also gegenüber den zwölf Stämmen Israels.
So wie der Ewige vor Tausenden von Jahren dafür sorgte, dass die Eigenschaft des Gerichts gerade am Tag des Gerichts weniger in der Welt in Erscheinung treten soll, indem Er Awraham (Gnade) auferlegt hat, Jizchak (Gericht) zu fesseln, sollten wir auch mit unseren Mitmenschen nicht so scharf ins Gericht gehen. Wir sollten nicht die Rolle des Anklägers übernehmen, sondern an Gnade Gefallen haben.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Kultusgemeinde Groß-Dortmund.