In der heutigen Zeit scheint das Ich immer mehr im Mittelpunkt zu stehen. Das führt dazu, dass die Verantwortung des Einzelnen für die Gesellschaft zunehmend in den Hintergrund tritt. Wir leben in einer Gesellschaft mit Ellenbogenmentalität, wo jeder versucht, seinen eigenen Vorteil zu erkämpfen, zum Teil auf Kosten anderer.
Und so hört man immer häufiger das Klagen aus der Politik und den Sozialverbänden, dass der Einzelne sich zu wenig um die Gemeinschaft kümmert. Die Schwächsten und Ärmsten der Gesellschaft werden zunehmend ignoriert und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Man liest Berichte über Kinder, alleinerziehende Mütter und alte Menschen, die kaum genug zum Leben haben. All das passiert in der Mitte unserer westlichen Gesellschaft. Doch wir haben Organisationen, Verbände und Vereine, die versuchen, diesen Menschen zu helfen.
Aus der Geschichte wissen wir, dass die Armen und Unterdrückten sich unter bestimmten Bedingungen dagegen auflehnen, Revolutionen anzetteln und zu Umstürzen ganzer Gesellschaften führen. Wir brauchen nicht lange in der Menschheitsgeschichte zu suchen. Der Protest eines Straßenhändlers in Tunesien, dem jegliches Recht versagt wurde und der keinen Ausweg sah, als sich das Leben zu nehmen, führte letztendlich zu dem, was wir als Arabischen Frühling bezeichnen.
weisungen Unser heutiger Wochenabschnitt Mischpatim zeigt uns Wege und gibt uns Weisungen, wie wir als Juden mit unserer Verantwortung gegenüber den Schwachen und Vernachlässigten in der Gesellschaft umgehen sollen.
Nach dem Auszug aus Ägypten war eine der größten Herausforderungen unserer Vorfahren die Frage, wie sie die Erfahrungen aus der Sklaverei, die sie in Ägypten erlebt hatten, nutzen sollten, um die neue Gesellschaft zu gestalten. Wie sollte sich die Erinnerung an die Sklaverei im Leben, in der Kultur und im Kultus des jüdischen Volkes ausdrücken? Unter göttlicher Führung wurden die Israeliten aus der Sklaverei Ägyptens in die Freiheit des Gelobten Landes geführt, doch mussten sie sich mit mit den schrecklichen Erfahrungen der Unterdrückung immer wieder auseinandersetzen.
Die Frage, vor der das Volk damals stand, war: Auf welchem Fundament werden wir die neue Gesellschaft aufbauen? Auf dem Fundament von Wut und Verbitterung oder auf dem Fundament des Mitgefühls und der Sorge um den Nächsten?
In der Tat eine schwere Aufgabe, die man nicht herabmindern kann. Der eingeschlagene Weg war zukunftsweisend für die nachkommenden Generationen. Und so ist dieser Weg, den die Kinder Israels damals gingen, die Definition unseres unverwechselbaren jüdischen Wertesystems. Es betont die Sorge um die Schwachen, Benachteiligten und Fremden. Und es erinnert uns daran, dass wir selbst Fremde in Ägypten waren. Unsere Rechtsnormen und Wertvorstellungen fordern uns dazu auf, die schwächeren Mitglieder unserer Gesellschaft zu unterstützen. Wir wissen, dass Gott unsere verzweifelten Schreie in Ägypten hörte – und deshalb dürfen auch wir unsere Ohren vor den Schreien der Armen und Unterdrückten heute nicht verschließen.
schoa Wir leben etwas mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Schoa. Diese Erfahrung ist für uns sehr viel schmerzhafter als die Sklaverei in Ägypten, weil sie immer noch Teil unserer lebendigen Erinnerung ist. Insbesondere in Deutschland sind wir immer noch im Prozess, jüdisches Leben nach der Vernichtung wiederaufzubauen. Wir müssen uns die Frage stellen: Soll die Erinnerung an die dunklen Tage für uns ein Fundament von Wut und Verbitterung werden? Oder können wir als Nachfahren ehemaliger Sklaven etwas aufbauen, das auf Mitgefühl und Verantwortung gegenüber unseren Mitmenschen basiert? Gerade für uns heute ist dies, wie für unsere Ahnen damals in der Wüste, nicht nur eine theoretische Frage.
Vor gerade einmal anderthalb Jahren haben wir erlebt, dass soziale Ungerechtigkeit auch innerhalb einer jüdischen Gesellschaft sehr stark sein kann. Die Proteste vom Sommer 2011 in Tel Aviv haben deutlich gemacht, dass auch im jüdischen Staat soziale und wirtschaftliche Ungerechtigkeit herrscht. Das zeigte uns, dass auch dort immer mehr Menschen sozial und wirtschaftlich vernachlässigt werden und dass die Politik dieses Thema lange nicht beachtet hat. Der Protest dort richtete sich in erster Linie gegen die ungerechte Behandlung von Flüchtlingen, alleinerziehenden Müttern, Rentnern und Studenten.
zuwanderer Aber auch in unseren Gemeinden in Deutschland, die zum größten Teil aus Zuwanderern bestehen, sind diese Themen hochaktuell. Auch hier sind viele Mitglieder sozial benachteiligt und brauchen Unterstützung. Da würde manchmal ein kleiner Blick in die Tora helfen, um zu sehen, was wir falsch machen, und wie einfach es wäre, unsere Mitmenschen richtig zu behandeln.
Diese Woche lesen wir: »Du sollst einen Fremden nicht bedrücken, weil du die Gefühle des Fremden kennst, denn fremd warst du im Land Ägypten« (2. Buch Mose 23,9). Wir können uns fragen, ob wir noch die gleichen Menschen sind wie diejenigen, die diese Worte zum ersten Mal in der Wüste hörten. Erinnert sich wirklich jeder von uns daran, wie es war, unterdrückt und fremd zu sein, um auf das Leid des anderen reagieren zu können?
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen.
Inhalt
Der Wochenabschnitt Mischpatim wird auch als Buch des Bundes bezeichnet. Hier geht es um Gesetze, die das Zusammenleben regeln. Der zweite Teil besteht aus Regelungen zur Körperverletzung, daran schließen sich Gesetze zum Eigentum an. Den Abschluss der Parascha bildet die Bestätigung des Bundes. Am Ende steigen Mosche, Aharon, Nadav, Avihu und die 70 Ältesten Israels auf den Berg, um den Ewigen zu sehen.
2. Buch Mose 21,1 – 24,18