Unsere Weisen haben sich bereits vor Hunderten von Jahren mit moralischen Fragen auseinandergesetzt, die uns noch heute beschäftigen. Zum Beispiel: Was genau gilt als Vergewaltigung? Unumstritten ist, dass eine Vergewaltigung stattfindet, wenn man eine Frau mit körperlicher Kraft zwingt, gegen ihren Willen eine sexuelle Beziehung einzugehen. Doch wie verhält es sich, wenn man auf die Frau psychischen Druck ausübt, Versprechungen macht oder sich als andere Person ausgibt, also mittels Täuschung die Frau dazu bringt, willentlich dem Sexualverkehr zuzustimmen?
Verbotene sexuelle Beziehungen gehören zu den drei Todsünden im Judentum. Man muss laut Halacha sein Leben opfern, um keine dieser Sünden zu begehen. Falls eine verheiratete Frau fremdgeht, muss sie sich scheiden lassen. Doch falls die Beziehung zu dem anderen Mann unfreiwillig war, sie also vergewaltigt wurde, darf sie weiterhin mit ihrem Ehemann zusammenleben.
esther Dieser Hintergrund führt zu einer ausgesprochen interessanten Diskussion im Talmud. Im Traktat Megilla wird gelehrt, dass Esther in Wirklichkeit mit Mordechai verheiratet war. Wie wir aber wissen, war Esther später auch mit dem persischen König Achaschwerosch verheiratet, was schließlich zur Rettung des jüdischen Volkes führte. Der Talmud sagt, dass Esther, nachdem sie mit Achaschwerosch intim gewesen war, immer wieder zu Mordechai zurückkehrte. Sie konnte sich dem Willen des Königs nicht widersetzen. Weil sie aber passiv blieb, galt diese Beziehung als Vergewaltigung, und sie durfte mit Mordechai weiterhin zusammenleben
Laut Talmud war die biblische Esther mit Mordechai verheiratet. Ihre Beziehung zu König Achaschwerosch gilt als Vergewaltigung.
Diese Einschätzung funktioniert aber nur bis zu einem bestimmten Moment, nämlich als Mordechai Esther zu Achaschwerosch schickte, damit sie ihn überredete, das jüdische Volk zu retten. Hierbei wird davon ausgegangen, dass Esther mit Achaschwerosch auch intim sein würde. Doch dann sagt Esther folgenden Satz, der während der Megilla-Lesung mit der Melodie von Eicha (der Rolle, die man am Trauertag Tischa beAw liest) vorgetragen wird: »Ukeascher awadeti, awadeti« (»So wie ich verloren ging, ging ich verloren«). Der Talmud legt diesen Ausdruck so aus: »So wie ich meinem Vaterhaus verloren ging, so gehe ich auch dir verloren.«
Raschi erklärt, was Esther genau damit meinte: »Bis jetzt war ich in der Beziehung zu Achaschwerosch immer passiv, deswegen durfte ich immer wieder zu dir zurückkehren. Jetzt gehe ich aber aus eigenem Willen zu ihm. Aus diesem Grund werde ich genauso, wie ich meinem Vater verloren ging, als ich dich heiratete, auch dir verloren gehen. Denn die Angelegenheit kann nicht mehr als Vergewaltigung angesehen werden. Somit können wir ab diesem Zeitpunkt nicht mehr zusammen sein.« Diese Geschichte wird gern von Rabbinern als Präzedenzfall genutzt und viel debattiert.
Eine Ehefrau, die freiwillig ein Verhältnis eingeht, muss sich von ihrem Ehemann scheiden lassen.
Im 17. Jahrhundert diskutierte Schwut Jaakow (Chelek 2,117), Rabbiner Jacob Reischer, folgenden Fall: Eine Gruppe reisender Juden entschloss sich, im Freien zu übernachten. Nachts wurden sie von einer Bande von Räubern überfallen, die alle töten wollten.
Eine Frau, die mit ihrem Ehemann zu den reisenden Juden gehörte, gefiel dem Anführer der Räuber sehr. Mit Einverständnis ihres Mannes bot sich die Frau dem Anführer an, unter der Bedingung, dass er alle Reisenden am Leben ließe. Das Angebot wurde gerne angenommen. Daraus resultieren zwei halachische Fragen: Hat diese Frau richtig gehandelt? Und gilt der Akt der Umstände wegen als Vergewaltigung?
Schwut Jaakow antwortete, dass die Frau zwar richtig und lobenswert gehandelt habe, indem sie das Leben ihrer Freunde retten wollte und sich in diesem Sinne wie Esther verhielt. Sie müsse sich aber im Nachhinein genau wie Esther von ihrem Ehemann trennen.
Mordechai Der Node Beihuda (JD 161), Rabbiner Echezkel Landau, schrieb hingegen, bei Esther sei es um das gesamte jüdische Volk gegangen – außerdem habe sie Anweisungen von Mordechai und seinem Beit Din erhalten. Ferner besaß Esther »Ruach Hakodesch« (die g’ttliche Inspiration). All dies traf bei der anderen Frau nicht zu. Insofern entschied der Rabbiner, dass es besser für sie und die anderen gewesen wäre, zu sterben.
Ein noch extremerer Fall ereignete sich im 19. Jahrhundert in Norddeutschland und wurde von dem Altonaer Rabbiner Jakob Ettlinger, der unter anderem Lehrer von Rabbiner Hirsch und Rabbiner Hildesheimer war, in seinem Responsenbuch Binjan Zion (154) behandelt. In einer wohlhabenden jüdischen Familie verließ der Ehemann sein Zuhause oft für Geschäftsreisen. Seine Frau war zwar sehr fromm, aber nicht besonders intelligent. Eines Tages klopfte ein armer frommer Jude an ihre Tür und bat um eine Übernachtungsmöglichkeit. Da ihr Haus groß war, willigte die fromme Frau gerne ein.
Sehr bemerkenswert fand sie, dass dieser Mann nichts außer Brot und Wasser zu sich nahm, trotz der kalten Temperaturen im Fluss untertauchte (anstelle der Mikwe) und den ganzen Tag ausschließlich mit dem Torastudium und dem Rezitieren von Psalmen beschäftigt war. Die Frau sah in dem Mann einen verborgenen Zaddik (Gerechten). Nach der Schabbatmahlzeit am Freitagabend, als alle Kinder und die Diener zu Bett gegangen waren, nahm die Frau ihren ganzen Mut zusammen und fragte den Mann, wer er wirklich sei und was er beabsichtige.
Psychischer Druck auf einen Menschen kann nicht weniger belastend sein als physischer Druck.
Maschiach Der »Zaddik« erklärte, er sei in Wirklichkeit Elijahu Hanawi (der Prophet Elija) und von G’tt in diese Welt geschickt worden, um den Maschiach zu bringen. Wegen ihrer außergewöhnlichen Frömmigkeit sei die Frau auserwählt worden, den Maschiach zu gebären. Das Problem sei ihr Ehemann, der leider nicht fromm genug sei. An dieser Stelle komme der Wanderer ins Spiel, denn er sei beauftragt, mit der Frau den Maschiach zu zeugen. Als Beweis dafür werde die Frau am Montag, nachdem der Wanderer ihr Haus bereits verlassen haben werde, ihren Schrank öffnen und sehr viel Gold finden.
Die Frau ließ sich überzeugen und wurde mit dem Fremden intim. Am Sonntag verabschiedete sich der »Prophet Elijahu«. Am Montag öffnete die Frau ihren Schrank und fand nichts. Als der Ehemann zurückkam, beichtete sie ihm weinend die ganze Geschichte. Das Paar suchte daraufhin einen Rabbiner auf, um herauszufinden, ob sie weiterhin zusammenleben durften, wobei die Frau versicherte, dass sie sich von dem Fremden nicht angezogen gefühlt hatte. Die Frage ging an Rabbiner Ettlinger.
In einem langen Responsum bewies dieser, dass psychischer Druck auf einen Menschen nicht weniger belastend sein kann als physischer. Aus diesem Grund war das Verhältnis halachisch als Vergewaltigung einzustufen, und das Ehepaar durfte weiterhin zusammenleben. Somit sehen wir auch hier, welche große Bedeutung die Halacha dem Gemütszustand eines Menschen beimisst. Ferner zeigt sich, dass bereits unsere Weisen zu Ergebnissen und Entscheidungen kamen, die die Würde jedes Menschen verteidigen.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Osnabrück und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).