Anfang April versandte der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (DKR) ein Schreiben, in dem er auf einen bisher nicht bekannt gewordenen Skandal hinwies: »Theologieprofessor will das Alte Testament aus der Heiligen Schrift verbannen«, so die Überschrift.
Im Text heißt es: »Mit nachfolgender Stellungnahme macht Friedhelm Pieper, evangelischer Präsident des DKR, einen theologischen Skandal im deutschen Pro-testantismus namhaft, der bislang beschä- menderweise ohne Kritik und Widerstand im protestantischen Raum schweigend geduldet oder ignoriert wurde. Der DKR hofft, mit dieser theologischen Stellungnahme diese Mauer des Schweigens durchbrechen und eine kritische Debatte in der evangelischen Kirche anregen zu können.«
Worum geht es? Schon 2013 hatte der an der Berliner Humboldt-Universität Systematische Theologie lehrende Notger Slenczka (Jahrgang 1960) im wenig bekannten, aber renommierten Marburger Jahrbuch Theologie XXV einen Aufsatz veröffentlicht, in dem er zu begründen versuchte, warum das sogenannte Alte Testament (AT) in der Kirche keine kanonische Geltung mehr haben soll. »Damit ist aber«, so Slenczka, »das AT als Grundlage einer Predigt, die einen Text als Anrede an die Gemeinde auslegt, nicht mehr geeignet: Sie – die christliche Kirche – ist als solche in den Texten des AT nicht angesprochen.«
Zur Begründung seiner Forderung beruft sich Slenczka auf deutsche Theologen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts: auf Friedrich Schleiermacher (1768–1834) und Adolf von Harnack (1851–1930).
Tenach Schleiermacher, der als Theologe zwar auch historisch arbeitete, suchte systematisch eine Theorie des frommen christlichen Selbstbewusstseins zu entfalten. Der Kirchenhistoriker Harnack hingegen wollte zeigen, dass die religionsgeschichtliche Forschung im 20. Jahrhundert endlich so weit war, zu erkennen, dass das Christentum tatsächlich eine völlig andere Religion sei als das Judentum, das sich auf das »Alte Testament«, den Tanach, beruft.
Der Name Schleiermacher steht also dafür, dass sich Christen als Angehörige einer Religionsgemeinschaft ihrer Frömmigkeit versichern müssen. Der Name Har- nack hingegen verweist auf die Annahme, das Christentum sei eine universale Religion der Liebe.
Slenczka, der übrigens auch Mitglied im Gemeinsamen Ausschuss »Kirche und Judentum« der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ist, fasst die Überzeugungen seiner Gewährsleute in markanten Sätzen zusammen: »In seiner Gänze ist das AT kein Zeugnis der Universalität des Gottesverhältnisses, sondern ein Zeugnis einer Stammesreligion mit partikularem Anspruch.«
Dieser abwertend klingenden These entspricht dann eine Feststellung, die das »Alte Testament«, die Hebräische Bibel, aus christlicher Frömmigkeit regelrecht ausschließt: »Das Korpus der alttestamentlichen Texte« sei »Ausdruck eines fremden religiösen Bewusstseins«.
Damit gibt Slenczka keineswegs nur Schleiermacher wider, sondern macht sich dessen Überzeugung auch zu eigen: Es sei doch faktisch so, »dass wir den Texten des AT in unserer Frömmigkeitspraxis einen minderen Rang im Vergleich zu den Texten des NT (Neuen Testaments, Anm. d. Red.) zuerkennen. Ausdrücklich wird dieses Fremdeln in der Auswahl der alttestamentlichen Predigttexte und in der Versauswahl, die unter den Psalmen in den li- turgischen Beigaben des EG (Evangelischen Gesangbuchs, Anm. d. Red.) vorgenommen wird«.
All diesen Ausführungen hielt nun DKR-Präsident Friedhelm Pieper entgegen, dass sie letztlich antijudaistisch sind: »Indem Notger Slenczka sich derart zustimmend in die antijüdische Tradition des deutschen Protestantismus hineinstellt, kann seine Abhandlung nicht anders gewertet werden als eben so, dass sie eine Neuauflage des protestantischen Antijudaismus darstellt.«
Zu diesen Vorhaltungen befragt, weist Slenczka sie im Gespräch entschieden zurück: Klassischer Antijudaismus, so der Theologieprofessor, bestehe doch darin, die dauernde Erwählung Israels zu bestreiten, die Juden des Christusmords zu zeihen und sie bekehren zu wollen, um endlich die Wiederkunft Christi zu ermöglichen. Keine dieser Positionen sei die seine. Im Gegenteil: Gerade weil er die partikulare Erwählung Israels beglaubige, sei er nicht antijudaistisch. Die wahren Antijudaisten seien hingegen jene, die – ohne Basis in der Bibel – behaupten, dass die Völker durch Jesus in den Bund Gottes mit Israel hineingenommen worden seien.
NAzikirche So wenig also Slenczka klassischer Antijudaismus vorzuhalten ist, so sehr doch ein bewusster und gewollter Mangel an historischer Reflexion. Denn es war die Theologie der »Deutschen Christen«, also der Nazikirche, die sich nicht zuletzt damit legitimierte, dass sie das »Alte Testament« für »undeutsch«, in heutiger Terminologie für »fremd«, erklärte. Beispielhaft tat dies einer der bedeutendsten Theologiehistoriker des 20. Jahrhunderts, Emanuel Hirsch (1888–1972), der zugleich ein überzeugter Rassist und Antisemit war.
Hirsch veröffentlichte 1936 seine Schrift Das Alte Testament und die Predigt des Evangeliums, in der es programmatisch hieß: »Unsere jungen Theologen wollen es sich zum Teil nicht einmal mehr klarmachen, dass wir Christen nichtjüdischen Bluts überhaupt kein unmittelbares Verhältnis zum Alten Testament haben – es geht uns als Gottesoffenbarung an sich selbst nichts an – , sondern lediglich ein durch das Neue Testament vermitteltes Verhältnis zum Alten Testament.«
SChoa Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust wurde den christlichen Kirchen nicht nur in Deutschland sowohl auf katholischer als auch auf evangelischer Seite in einem schmerzhaften Besinnungsprozess klar, dass der christliche Antijudaismus eine wesentliche Quelle des exterminatorischen, politischen Antisemitismus war. Die Schoa war eine Katastrophe nicht nur für die sechs Millionen ermordeten europäischen Juden, sondern sie markierte auch die schwerste Krise des christlichen Glaubens seit seiner Entstehung.
Dafür stehen nicht nur die vor 50 Jahren verabschiedete vatikanische Erklärung »Nostra Aetate«, sondern auch mehrere Denkschriften der EKD zum Thema »Christen und Juden« sowie die grundlegenden Arbeiten von Theologen wie Johann Baptist Metz, Rolf Rendtorff, Luise Schottroff oder Rainer Kampling, Klaus Wengst, Frank und Marlene Crüsemann sowie Jürgen Ebach.
Indem diese christlichen Theologen in der Hebräischen Bibel jenes Zeugnis erkennen, das die Universalität des einen Gottes der ganzen Menschheit offenbarte und das der ganzen Menschheit eigene Bedürfnis nach Gottes Verheißung auf Erlösung beglaubigte, fanden sie den gemeinsamen Wurzelgrund der historisch entstandenen Religionen von rabbinischem Judentum und Christentum. Einen gemeinsamen Grund, der paradoxerweise über Jahrhunderte wegen seiner unterschiedlichen Auslegung trennte, seit der Schoa hingegen zunehmend verbindet.
Auch deshalb können Slenczkas Beteuerungen, das »Alte Testament« gerade aus Respekt vor dem Judentum, dem man sein Eigenes lassen möge, aus dem kirchlichen Kanon auszugliedern, in der Sache nicht überzeugen. Denn sogar wenn man über die abwertende Formulierung »Stammesreligion mit partikularem Anspruch« hinwegginge und daran erinnerte, dass der Gott dieses »Stammes« ja schon als Gott aller Menschen bezeugt wurde, bleibt doch das fatale Wort vom »fremden religiösen Bewusstsein«.
Abschottung Die Semantik des Wortpaars »eigen – fremd« kam historisch und gesellschaftlich stets in zwei Kontexten zum Ausdruck: hier in der Faszination, in der Neugier und Sehnsucht nach dem Fremden, dem Anderen, dann aber auch in Angst, Abschottung und Versicherung der eigenen Identität, des eigenen Selbstbewusstseins.
Menschen, Kulturen und Religionen als »fremd« zu bezeichnen, ist daher niemals nur eine wertfreie Feststellung, sondern allemal auch Programm. Der Ägyptologe Jan Assmann hat in Erläuterungen zum biblischen Buch Exodus jüngst klargestellt, dass es im Glauben, in der Religion weniger um Feststellungen denn um Handlungsanweisungen geht, um »Performanz«.
Die Hebräische Bibel daher, wie Slenczka – und sei es auch nur aus Respekt –, als »Ausdruck fremden religiösen Bewusstseins« zu bezeichnen, errichtet nicht nur eine Grenze, sondern fordert auch, das »Fremde« über diese Grenze abzuschieben. Kurz: Die christliche Gemeinde zwar über alttestamentliche Texte zu informieren, in ihnen aber nicht mehr eine authentische und autoritative Anrede an die Gemeinde zu verstehen, macht sie bestenfalls zu Objekten religionswissenschaftlicher Forschung.
Da aber Glaubensgemeinschaften, ihre Texte und ihre Mitglieder nicht sinnvoll voneinander zu trennen sind, bedeutet der Ausschluss alttestamentlicher Texte aus dem Kanon am Ende doch nichts anderes als die Aufkündigung einer nach dem Holocaust langsam gewachsenen mit- und zwischenmenschlichen Gemeinschaft von Juden und Christen als Religionen, die durch persönliche Freundschaften oder Beteuerungen bürgerlichen Respekts nicht zu ersetzen sind.
Debatte Man wird daher dem Deutschen Koordinierungsrat dafür danken müssen, die Thematik zur öffentlichen Diskussion gestellt zu haben. Immerhin könnte es sein, dass sich hinter der ausgebliebenen Debatte doch mehr als nur stillschweigende Duldung verbirgt. Wissen wir wirklich, wie sich jene, die heute christliche Theologie studieren, zu diesen Fragen verhalten? Die Vermutung, dass die Zustimmung zu Slenczkas Thesen, zumal unter protestantischen Nachwuchstheologen, größer sein könnte als erhofft, scheint mir jedenfalls nicht aus der Luft gegriffen.
Erfreulicher Weise haben sich Mitte April fünf Professoren der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität (Cilliers Breytenbach, Wilhelm Gräb, Christoph Markschies, Rolf Schieder und Jens Schröter) in einer Erklärung von Slenczkas Äußerungen distanziert: Sie seien »historisch nicht zutreffend und theologisch inakzeptabel«, beruhten auf einer »enggeführten Interpretation paulinischer Texte«, ignorierten den Forschungsstand im Blick auf die Entstehungsgeschichte der Hebräischen Bibel und seien »einer forschungsgeschichtlich hochproblematischen, längst überwundenen Perspektive auf das Verhältnis zwischen Judentum und Christentum in der Antike verpflichtet«.
Gemeinsam mit ihren jüdischen Kolleginnen und Kollegen wollen die Theologen die tragende Rolle des Alten Testamentes für die Entstehung des Christentums und seiner Theologie hervorheben und gegenüber den Studenten ihrer Fakultät keinen Zweifel daran lassen, dass »das Alte Testament in gleicher Weise wie das Neue Quelle und Norm der evangelischen Theologie ist und bleiben wird«.
Notger Slenczka ist zugutezuhalten, das strittige Thema zur Sprache gebracht zu haben. Aber dafür, dass es auch jenseits des engen Rahmens wissenschaftlicher Theologie erörtert wird, ist Friedhelm Pieper und dem Deutschen Koordinierungsrat zu danken.
Der Autor ist Erziehungswissenschaftler und Publizist.