Exegese

Anstelle eines Auges

»Auge für Auge« war nicht wörtlich gemeint, sondern es ging um eine Entschädigungszahlung. Foto: Thinkstock

Das meistverwendete Bibelzitat unserer Zeit ist zweifelsohne »Auge um Auge, Zahn um Zahn«. Zu diesem Klischee gewordenen Satz greifen manche ratlosen Journalisten wie auch Politiker häufig, wenn sie aus europäischem Blickwinkel Vorgänge im Rest der Welt erläutern wollen, die sie ebenso wenig begreifen wie eben die Bedeutung dieses biblischen Ausdrucks.

Viele behaupten, der Staat Israel behandele seine Gegner im Sinne dieses »alttestamentarischen Prinzips«, indem er Rache und Vergeltung übe. Es ist wieder einmal an der Zeit, die Bedeutung und Hintergründe dieser biblischen Aussage zu erläutern. Schon deshalb, weil unlängst auch eine führende Politikerin der grünen Partei, die auch noch Theologie studiert hat, in einer Talkshow unüberlegt – oder vielleicht sehr überlegt– dieses Klischee in die Diskussion einwarf.

An mehreren Stellen der Tora kommt dieser Ausdruck vor, der eher eine Verordnung ist (2. Buch Mose 21,24–25 und 5. Buch Mose 19, 21). Martin Luther gibt sie in seiner deutschen Bibelübersetzung so wieder: »Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Beule um Beule, Wunde um Wunde«.

Ius talionis Die Form dieses Vergeltungsrechtes, von den Gelehrten »ius talionis« genannt, ist uns seit der Ausgrabung der Gesetzestafeln des altbabylonischen Herrschers Hamurabi bekannt.

Die Frage ist aber, ob im Judentum die blutige Form des Vergeltungsrechtes, die ein Auge für ein Auge fordert, jemals zur Anwendung gekommen ist. Wenn überhaupt, dann nur in dunklen Vorzeiten vor der Offenbarung am Berge Sinai. Die Gesetzgebung der Tora hat die Anwendung des »ius talionis«, wie sie uns einige mit dem Zitieren von »Auge um Auge« vorgaukeln wollen, unmöglich gemacht.

Ein Totschläger, bei dem die hinterhältige, böswillige Absicht des Mörders fehlte, konnte laut Tora in einer der Asylstädte vor den Nachstellungen der Bluträcher und Verfolger Zuflucht finden (4. Buch Mose 35,28). Diese Bibelstelle ist die Quelle des Asylgedankens in der Menschheitsgeschichte.

Talmud Der Talmud, die nachbiblische Gesetzesauslegung, zitiert eine Diskussion über unser Thema (Baba Kamma 83b): »Rabbi Schimon bar Jochaj sagte: ›Auge für Auge heißt Geld (Schadenersatz)!‹ – ›Vielleicht ist aber das wirkliche Auge gemeint und kein Geld (Ersatz für das Auge)?‹, fragte jemand dazwischen.«

Der Rabbi, um seine verbindliche Auslegung zu verteidigen, bringt ein konkretes Beispiel: Gesetzt den Fall, ein Blinder blendet jemanden, ein Körperbehinderter oder Gelähmter fügt jemandem einen körperlichen Schaden oder eine Lähmung zu: Wie könnte man dann »Auge für Auge« (als Prinzip) anwenden? Die Tora sagte (im 3. Buch Mose 24,22) doch, »ein einheitliches Rechtssystem soll (für) euch gelten. Ein Recht, das für alle gleich ist. Dem Fremdling und dem Einheimischen«. Daraufhin schwiegen die Gegenargumente. Weil dies damals, zu talmudischen Zeiten, jedem einleuchtete.

Entschädigung In einem anderen talmudischen Lehrhaus fügte man noch hinzu: Die wörtliche, fundamentalistische Auslegung sei unvorstellbar: »Auge für Auge, (oder) Leben für Leben, (dies könnte dazu verleiten) ... Leben und Auge für ein Auge zu verlangen! Durch die Blendung könnte also jemand sein Leben verlieren ...« Da sahen alle Diskussionsteilnehmer ein, dass »Auge für Auge« niemals wörtlich für Rache oder Vergeltung stehen kann, sondern nur für eine materielle Entschädigung.

Benno Jacob (1862–1945), ein renommierter jüdischer Bibelgelehrter aus Deutschland, der die Sprache der Bibel, das Hebräische, wesentlich besser verstand als Martin Luther und seine Nachfolger, führte aus: » ... die Übersetzung ›Auge um Auge‹ wird dem hebräischen Urtext nicht gerecht: ›Ajin tachat Ajin‹ heißt eigentlich richtig: ›Auge anstelle eines Auges‹.« Das hebräische Wort: »tachat« meint hier: den Ersatz.

Widder Jacob bringt als Beleg die Bibelstelle des Opferungsversuches Abrahams an Isaak (1. Buch Mose 22,13). Wie bekannt, opferte Abraham einen Widder »tachat b’no« – anstelle seines Sohnes! Jacobs Schlussfolgerung: »Wenn es daher heißt ›Ajin tachat Ajin‹, so kann dies nur bedeuten: etwas, was dem des Auge Beraubten ersetzt. Ein nunmehr dem Täter ausgeschlagenes Auge kann dies jedenfalls nicht tun.« So weit Benno Jacob, der Bibelexeget.

Doch das lutherisch-antijüdische Vorurteil hat seit eh und je unser biblisches Gebot zum Ausgangspunkt perfidester Attacken gegen das Judentum genommen, meint Roland Gradwohl, der so jung verstorbene, frühere Berner Rabbiner.

Mär Es entstand dabei die Mär vom »alttestamentlichen Rachegott«, der dem »Gott der Liebe« des Neuen Testamentes entgegengestellt wurde. Hermann Cohen, der Marburger Philosoph, fügte in diesem Zusammenhang noch hinzu, dies sei »ein Monstrum der Verleumdung«!

Vielleicht sollte man von der Fraktionsvorsitzenden der Partei Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, doch erwarten, dass sie Zitate aus der Hebräischen Bibel nicht blindlings aus Luthers Übersetzung übernimmt.

Der Autor war bis 2002 Landesrabbiner von Württemberg.

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