Warum weicht ein Teil unseres Volkes von den Gesetzen der Tora ab? Rav Jakov Kranz, der Magid von Dubno (1740–1804), glaubt, es liege daran, dass mancher von uns meint, andere Völker seien klüger als wir. Dieser Gedanke habe uns dahin geführt, in vielen Bereichen des Lebens besser zu sein als die anderen. Wir lassen uns von der Umgebung verleiten: Durch den Drang, anderen ähneln zu wollen, verlieren wir uns selbst.
Was ist das Ziel der Tora, und zu welchem Zweck wurde sie uns gegeben? Die Tora dient als Anleitung dafür, wie man in dieser Welt leben soll. Sie wurde uns gegeben, um uns vor Gefahren zu schützen, sowohl äußeren als auch inneren, und auch vor uns selbst. Die Tora soll der Orientierung dienen und unser Wertesystem für diese Welt sein. Davon erzählt uns der Wochenabschnitt Ha’asinu.
»Ha’asinu« ist im Grunde ein prophetisches Lied. Es offenbart die gesamte Geschichte des jüdischen Volkes: was schon geschah und was noch geschehen wird, wie etwa der Eintritt ins Gelobte Land, die Vertreibung aus dem Land und unsere endgültige Rückkehr. Alle diese Perioden resultieren daraus, dass wir die Gesetze der Tora befolgen.
Essenz In unserem Wochenabschnitt steht Folgendes geschrieben: »Lass herabstürzen wie Regen meine Lehre« (5. Buch Mose 32,2). Raschi (1040–1105) erklärt dazu, dass die Tora, die uns G’tt gegeben hat, die Essenz für das Leben in der Welt ist, genauso wie der Regen Leben in die Welt bringt. Aber wer ist schuld daran, dass wir die Orientierung verlieren und von den Gesetzen der Tora abweichen? Und wem schadet dies?
»Nichtsein ist das Verderben« (32,5). Unser Verderben! Ist das unsere Dankbarkeit Ihm gegenüber? »Dankst du so dem Ewigen, nichtswürdiges, unweises Volk? Ist Er nicht dein Vater, Der dich gesegnet, Der dich gemacht und dich bereitet hat?« (32,6).
Der Ewige habe sich die ganze Zeit um uns gekümmert, erklärt Raschi. Er hat uns einen gütigen Weg gezeigt, aber wir sind davon abgewichen.
König Salomon sagt: »Ihre Wege sind liebliche Wege, und alle ihre Steige sind Frieden« (Sprüche 3,17). Und in Kohelet sagt er: »Schau, allein das habe ich gefunden. G’tt hat den Menschen aufrichtig gemacht, aber sie suchen viele Künste« (7,29). Die Aufrichtigkeit haben wir auf dem Berg Sinai bekommen, sie ist ein Teil von uns geworden. Die Aufrichtigkeit führt zu lieblichen Wegen und zu Frieden – das ist der Weg G’ttes. Unser Zweck ist nicht, in die Künste hineinzugehen.
Der Talmud sagt im Traktat Joma, dass wir mit unseren Taten den Menschen die Liebe zu G’tt beibringen sollen. Die Ansprache anderen Menschen gegenüber soll immer freundlich und sanft sein. So werden die Menschen sehen, dass man die Wege G’ttes geht, und so kommen die anderen zu Ahawat Haschem, der Liebe zu G’tt, Der uns befohlen hat, liebliche Wege zu gehen.
Etwas Ähnliches finden wir in den Sprüchen der Väter. Dort sagt Rabbi Elieser, ohne gute Sitte gebe es keine Tora (3,17). Wer viel Tora gelernt und keine guten Charaktereigenschaften erworben hat, der hat wohl auch nicht wirklich Tora gelernt.
Abweichen Wir wurden aus unserem Gelobten Land vertrieben, weil wir von den Gesetzen der Tora abgewichen sind. Diese prophetische Aussage sehen wir auch in unserem Wochenabschnitt. Wenn wir die Wege G’ttes vergessen, dann »brennt das Feuer des g’ttlichen Zorns bis in die unterste Hölle, verzehrt Erdreich und Gewächs, entzündet die Grundfesten der Berge« (32,22).
Raschi erklärt, der Ewige werde es so aussehen lassen, als ob wir nie existiert hätten, weil unsere Taten denen von Sodom und Gomorra ähnelten. Und so geschah es auch: Alle Gewächse wurden verzehrt, und 2000 Jahre wuchs nichts im Gelobten Land. Die Grundfesten der Berge waren entzündet. Es heißt, Jerusalem, das auf den Bergen steht, war während unserer Abwesenheit nichts als Ruinen.
»Die ihrer Opfer Fett verzehrten und tranken ihren Opferwein, sie mögen aufstehen und euch helfen« (32,38). Wie sollen wir das verstehen? Für uns bedeutet es: Die Völker, denen wir ähneln möchten, die sollen uns helfen. Doch die Geschichte sagt uns etwas anderes, nämlich dass G’tt die Abneigung uns gegenüber in diese Völker einpflanzte, damit sie uns von sich abstoßen. Unsere Weisen sagen, dass unsere Geschichte ein Teil der Tora ist.
Wenn wir heute auf die Geschichte zurückblicken, können wir leicht vergleichen und nachvollziehen, dass alle Prophezeiungen aus unserem Wochenabschnitt wahr geworden sind. Daraus entnehmen wir, dass der einzige Weg unseres Volkes der Weg der Tora ist.
»Da sprach er (Mosche) zu ihnen: Nehmt euch all die Worte, mit denen ich euch heute vermahnt habe, zu Herzen, dass ihr sie euren Kindern einschärft, dass sie sie bewahren und nach den Worten dieser Lehre handeln. Es sollte euch nicht wenig daran gelegen sein, denn euer Leben hängt davon ab« (32, 46–47).
Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.
Inhalt
Der Wochenabschnitt Ha’asinu gibt zu einem großen Teil das »Lied Mosches« wieder. Mosche trägt es dem Volk vor und weist darauf hin, wie wichtig es ist. Er fordert die Israeliten auf, sich an den Werdegang der Nation und an ihre Vorfahren zu erinnern, die den Bund mit G’tt geschlossen haben. Das Lied erzählt von der Macht G’ttes und wie sie sich in der Geschichte der Welt gezeigt hat. Es erinnert an das Gute, das der Ewige dem Volk Israel zuteilwerden ließ, aber auch an die Widerspenstigkeit der Israeliten und die Bestrafung dafür. G’tt spricht zu Mosche und fordert ihn auf, auf den Berg Nebo zu kommen. Von dort soll er auf das Land Israel schauen – betreten aber darf er es nicht.
5. Buch Mose 32, 1–52