Unsere Weisen lehren, man solle stets sanft und nachgiebig sein wie das Schilfrohr, nicht stolz wie die Zeder. Diesen Lehrsatz formulierte Rabbi Elasar ben Schimon anlässlich eines für ihn eher unrühmlichen Ereignisses. Hatte er doch grundlos einen Mann beleidigt, nur weil dieser ausgesprochen hässlich war (Taanit 20b).
Nicht nur an dieser Stelle schildert der Talmud eine Situation, in der es um Beleidigung geht. Die Anlässe für beleidigende Äußerungen sind dabei durchaus unterschiedlich, sie reichen von Übermut und Herablassung über gekränkte Eitelkeit bis hin zum Hass auf eine andere Person.
WETTE Im Traktat Schabbat 31a wird als Anlass dafür sogar von einer Wette erzählt, die darauf abzielte, den sanftmütigen Hillel auf die Palme zu bringen. An einem Freitag, als sich Hillel auf den Schabbat vorbereitete, ging ein Mann hin und belästigte Hillel mit allerlei unsinnigen Fragen. Doch schon die erste Frage war nur scheinbar harmlos: »Weshalb haben die Babylonier eierförmige Köpfe?« Vielleicht fand der Mann das witzig, denn Hillel war ein Babylonier. Aber er ließ sich nicht provozieren und entgegnete dem Mann freundlich, das habe wohl seine Ursache in der Ungeschicklichkeit der babylonischen Hebammen. Seine Genugtuung bestand am Ende darin, dass der Mann seine Wette verlor.
Nicht immer reagiert ein Beleidigter so gleichmütig. Und nicht immer ist eine Äußerung auch tatsächlich beleidigend gemeint, sondern wird lediglich so aufgefasst.
Zu einem solchen Missverständnis kam es eines Tages zwischen Rabbi Huna und seinem Schüler Rabbi Chisda. In einer halachischen Diskussion um die Rückgabe eines gefundenen Gegenstandes sprach Chisda vom angenommenen Beispiel eines Schülers, den sein Lehrer als Lernpartner brauche. Huna glaubte nun fälschlicherweise, Chisda spreche von ihnen beiden, und fuhr seinen Schüler an: »Chisda, ich brauche dich nicht, aber du brauchst mich!«
Er war wütend über die angebliche Anmaßung seines Schülers, und Chisda war wütend über die unangebrachte Reaktion seines Lehrers. Am Ende tat es beiden leid – dem einen, dass er Huna unabsichtlich beleidigt hatte, und dem anderen, dass er Chisda verdächtigt hatte, ihn absichtlich beleidigt zu haben (Bava Metzia 33a).
DISPUT In Bava Metzia 84a lesen wir von einem Lehrhausdisput, in dem ein Lehrer, nämlich Rabbi Jochanan, seinen einstigen Schüler Resch Lakisch beleidigte, in diesem Fall aber wohl mit voller Absicht. Im Streit darum, ab wann geschmiedete Waffen verunreinigungsfähig seien, hatte Rabbi Jochanan eine eher theoretische Lehrmeinung vertreten, und Resch Lakisch widersprach ihm mit einem sehr praktischen Argument.
Daraufhin entgegnete ihm Rabbi Jochanan, verärgert über den Widerspruch, ein Räuber kenne eben sein Handwerkszeug, womit er unfein auf Resch Lakischs Vergangenheit abzielte. An den Folgen dieser Kränkung starb Resch Lakisch. Nach seinem Tod wurde auch Rabbi Jochanan seines Lebens nicht mehr froh, hatte er doch seinen Freund, Schwager und Lernpartner verloren.
Nicht nur im Lehrhaus, auch draußen im profanen Alltag beschreibt der Talmud die Thematik von Beleidigungen in den unterschiedlichsten Zusammenhängen. In Kidduschin 28a finden wir gar eine Auflistung, wie bestimmte Schimpfwörter zu bestrafen seien, ähnlich wie eine Art Bußgeldkatalog von heute, wenn auch die damaligen Strafen sehr viel drastischer waren. Man muss sich also nicht alles gefallen lassen. Und doch lehren unsere Weisen (Schabbat 88b), dass über diejenigen, die beleidigt werden, aber selbst nicht beleidigen, die eine Beschämung nicht erwidern, sondern aus Liebe handeln, der Schriftvers sagt: »Die den Ewigen lieben, sind wie der Aufgang der Sonne in ihrer Kraft« (Richter 5,31).