»Du sollst das Andenken an Amalek auslöschen«: Unter den 613 Geboten des Judentums, die von Maimonides zusammengestellt wurden, finden wir eine Mizwa, die ausschließlich als kollektives Gebot für das ganze Volk Israel zu verstehen ist.
Wie gefährlich es sein kann, wenn Einzelne sich anmaßen, »Amalek« auf eigene Faust identifizieren und auslöschen zu wollen, hat sich vor 20 Jahren gezeigt: Am 25. Februar 1994 richtete der extremistische Siedler Baruch Goldstein in Hebron im Westjordanland ein schreckliches Blutbad an. Mit einer Maschinenpistole bewaffnet und in eine Uniform der israelischen Armee gekleidet, betrat er am Morgen von Purim die Ibrahim-Moschee – den muslimischen Teil der Machpela-Höhle, wo laut Tora Awraham, Jitzchak und Jakow begraben sind – und schoss wahllos um sich.
Von Hunderten palästinensischer Zivilisten, die sich zum Gebet versammelt hatten, ermordete Goldstein 29; Dutzende wurden schwer verletzt. Der Angreifer, der schließlich überwältigt und mit einem Feuerlöscher erschlagen wurde, wird auf seinem Grabstein in Hebron als »Heiliger« gepriesen, der »mit sauberen Händen und reinem Herzen« (»naki kapajim vebar le-waw«) für »Kiddusch Haschem«, also angeblich für die Heiligung Gottes gestorben sei.
Radikale Dass die Goldstein-Verehrung – nicht unter allen, aber unter den radikalsten Siedlern – immer noch virulent ist, kann der Besucher in Hebron oder Kirjat Arba erfahren. Dort ist zu hören, dass die Welt einfach nicht verstehe, dass »die Palästinenser« Amalek seien – und es eine »Mizwa« sei, sie zu »vernichten«. Eine Ansicht, die auch Goldstein geteilt haben soll.
Der aus Israel stammende Rabbiner Avichai Apel, Vorstandsmitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz und Gemeinderabbiner in Dortmund, widerspricht dieser Auffassung energisch: »Natürlich können wir die Palästinenser nicht einfach als Amalek bezeichnen.« Die Tora, sagt Apel, »hat uns eine solch radikale Mizwa gegeben, weil die Situation so radikal war. Weil dieser radikale Zustand heute nicht mehr besteht, können wir das heute nicht mehr so verstehen wie damals.«
Der Text, aus dem die Mizwa sich ableitet, steht im 5. Buch Mose. Am 15. März, dem 13. Adar II – dem Schabbat Sachor, einen Tag vor Purim – lesen wir ihn wieder als Zusatz zur Parascha in der Synagoge: »Denke daran, was Amalek dir tat auf dem Wege, als ihr aus Ägypten zogt: wie er dich unterwegs angriff und deine Nachzügler erschlug, alle die Schwachen, die hinter dir zurückgeblieben waren, als du müde und matt warst, und wie sie Gott nicht fürchteten. Du sollst die Erinnerung an Amalek austilgen unter dem Himmel. Das vergiss nicht!« (5. Buch Mose 25, 17–19). Aber wer war Amalek?
ERZFEIND Er gilt als der Erzfeind des jüdischen Volkes, obwohl er laut dem 1. Buch Mose auch ein entfernter Verwandter Jakows und Israels ist: Amalek, der Sohn von Eliphaz und Urenkel von Esaw. Und er wird als der Urvater der Amalekiter angesehen – ein Nomadenvolk, das mit den Israeliten in Kriege um das Land verwickelt war. Bekannt ist die Geschichte, wie die Amalekiter bei Rephidim in der Wüste einen Angriff auf die Israeliten starteten, die kurz zuvor noch von Wassermangel geschwächt waren.
Mosche leitete die Abwehrschlacht gegen Amalek, indem er von einer Höhe aus seine Arme zum Himmel reckte, um Gottes Beistand zu sichern: »Und wenn Mosche seine Hand emporhielt, siegte Israel; ließ er sie aber sinken, siegte Amalek.« Nur gemeinsam war es möglich, Amalek zu schlagen: Zwei Männer stützten Mosches Arme bis zum Sonnenuntergang, und so wurde die Schlacht zugunsten Israels entschieden (2. Buch Mose 17, 8–13). Anschließend kündigt Gott an, das Andenken an Amalek auszulöschen.
Dass König Saul es versäumte, den Amalekiterkönig Agag zu töten, kostete ihn laut dem 1. Buch Samuel 15 sogar den Königsthron. Vollständig vernichtet werden die »Entronnenen der Amalekiter« erst im Buch Diwre Hajamim I 4,43 von den Söhnen des Königs Hiskia. Dennoch taucht Amalek an anderer Stelle wieder auf: Im Buch Esther wird der Judenfeind Haman als »Agagi«, als Abkömmling des Amalekiterkönigs Agag bezeichnet.
Chiffre Stefan Schorch, Professor für Bibelwissenschaften an der Universität Halle-Wittenberg, sagt, im Lauf der Geschichte sei Amalek »zu einer Art Chiffre geworden, für den Feind Israels schlechthin«. Allerdings lasse sich Amalek historisch überhaupt nicht fassen: »Wir wissen außerhalb der Bibel nichts über Amalek.«
Die Chiffre ist bis heute beliebt. Ob Hitler, Saddam Hussein oder Ahmadinedschad: Amalek-Vergleiche gehören in Israel nicht nur bei religiösen Politikern zum Alltag. Dass Amalek immer wieder herangezogen wird, erklärt Walter Rothschild, Landesrabbiner von Schleswig-Holstein, so: »Die Sache mit Amalek war das erste ›Kriegsverbrechen‹; er hat die Israeliten von hinten angegriffen, die Frauen und Alten und Kranken, also Zivilisten. Und ›er hatte keine Furcht vor Gott‹.« Wer heute die Stelle im 5. Buch Mose 25 liest, dem drängen sich Assoziationen zum Zweiten Weltkrieg und zur Schoa auf, so Rothschild: »Amalek symbolisiert alle, die nicht einmal Respekt für die Regeln und Gesetze des Krieges haben.«
Viele Interpreten wollen »Amalek« heute nicht mehr als real begreifen, sondern als geistiges Konzept. »›Das Andenken Amaleks auszulöschen‹, bedeutet nicht, Gott bewahre, ein Gewehr zu nehmen und zu töten. Sondern wir müssen verstehen, dass Amalek derjenige ist, der versucht hat, dem Volk Israel die Kraft zu nehmen. Sein Andenken auszulöschen, heißt, seine Macht zu vernichten«, erläutert Apel: »Wenn wir es schaffen, dass die Völker nicht gegen das Volk Israel sind, dass sie vom Volk Israel die guten Dinge annehmen und auch wir von ihnen die guten Dinge annehmen, dann haben wir das Andenken von Amalek ausgelöscht.«
Auch sei die »Amalek-Mizwa« nicht Bestandteil des Schulchan Aruch, also keine kodifizierte Halacha: »Weil Sennacherib kam und die Nationen verwirrte«, erläutert Apel. Der Assyrerkönig Sennacherib hatte – so beschrieben in Bibel und Gemara – zur Zeit des Königs Hiskia Völker und Stämme umgesiedelt. Wegen dieser »Verwirrung der Nationen« könne Amalek nicht mehr eindeutig identifiziert werden.
Armee Dies bedeute aber nicht, dass es keine realen Bedrohungen gibt: »Jeder, dessen Ziel es ist, das Volk Israel zu vernichten, passt meiner Meinung nach in diese Kategorie.« Doch Apel betont: »Wenn die israelische Armee sagt, wir haben einen Feind, den wir bekämpfen müssen, dann ist es eine Mizwa. Aber eine solche Anweisung muss vonseiten des Staates Israel kommen, nicht von Einzelnen.«
Zurück zu den Quellen: Der Babylonische Talmud zählt im Traktat Sanhedrin 20 drei Mizwot auf, die dem Volk Israel beim Betreten von Eretz Israel befohlen sind: »Erstens, einen König zu ernennen, zweitens, den Tempel zu bauen, aber vorher Amalek auszulöschen.« Das Gebot, die Erinnerung an Amalek zu tilgen, ist daher eine kollektive Mizwa.
»Wenn ein Mensch in Not gerät, hat er das Recht zur Notwehr«, sagt Apel. Dies gelte auch für Juden, die von Terroristen angegriffen werden: »Aber ein Mann, der die Not selbst sucht, hat nicht das Recht, andere umzubringen.« Nichts trifft auf Baruch Goldstein also weniger zu als der Titel »Heiliger« – vor 20 Jahren so wenig wie heute.