In unserer Parascha lesen wir jetzt ganz am Anfang im Tasria-Teil von Geburt und Beschneidung (3. Buch Mose 12, 2–3): »Eine Frau, wenn sie niederkommt und einen Jungen gebärt, so soll sie sieben Tage unrein sein ... Und am achten Tage soll er an dem Fleisch seiner Vorhaut beschnitten werden.« Im Mezora-Teil unserer Doppelparascha lesen wir dann nochmals über die Unreinheit einer Frau, in Verbindung mit ihrer Menstruation (15, 19–30).
Es ist richtig, dass auf den ersten Blick diese Regeln von Unreinheit, Reinheit und auch die Beschneidung selbst anachronistisch wirken und für uns moderne Menschen fast schon befremdlich klingen. Wenn wir allerdings etwas tiefer in die Bedeutung blicken, werden wir merken, wie fundamental diese Konzepte für unsere jüdische Identität sind.
Abstinenz Die Konzepte von tuma und tahara, die als »unrein« und »rein« übersetzt werden, sind tatsächlich schwer zu verstehen. Deshalb möchte ich anfangs erklären, was sie nicht sind. Sie haben nichts Überirdisches und keine mythologische Bedeutung (wie in heidnischen Kulten). Die Frau ist während der Zeit von Nidda (während der Menstruation) auch in keiner Weise minderwertig. Es ist einfach ein juristischer Begriff in der Tora, der erklärt, dass sie in einem spirituellen Zustand ist, in dem sie nicht an bestimmten Mahlzeiten teilnehmen oder den Tempel betreten kann. Tuma bedeutet auch nicht wörtlich »unrein«, es gibt also keinen hygienischen Aspekt.
Während die meisten Vorschriften in Verbindung mit der rituellen Unreinheit und Reinheit seit der Zerstörung des Tempels so heute tatsächlich nicht mehr relevant sind, gelten aber immer noch die Regeln bezüglich der Menstruation und der Geburt, auch Taharat Mischpacha (wörtlich: Reinheit der Familie) genannt. Darin ist zum Beispiel geregelt, dass die Frau während ihrer Periode und sieben Tage danach keinen physischen Kontakt zu ihrem Ehemann hat, bis sie in die Mikwe geht. Natürlich begegnen sich Ehepartner auch in dieser Zeit der intimen Abstinenz respektvoll und voller Warmherzigkeit.
Warum aber sind solche Regeln heute noch notwendig? Die Antwort finden wir im Konzept der Sexualität im Judentum. Das Judentum ist der Sexualität gegenüber nicht negativ eingestellt, aber Sexualität ist auch nicht nur auf das Physische beschränkt, was letztlich nur zu emotionaler Einsamkeit und Leere führen würde.
Das Judentum geht einen Mittelweg. Sexualität basiert auf Ehe und Partnerschaft. Eine solche Partnerschaft kann nur durch Vertrauen und gegenseitige Verantwortung entstehen. Das hebräische Wort für Liebe, Ahawa, drückt das gut aus. Eigentlich ist die Übersetzung Liebe (im romantischen Sinn) nicht ganz richtig. In den meisten Fällen wird das Wort Ahawa in der Bibel nämlich eher für Verantwortung und Fürsorge verwendet, zum Beispiel, wenn es heißt »Liebe den Fremden«. Vertrauen und Verantwortung füreinander entwickeln sich aber nur, wenn man den/die andere/n gut kennt und versteht.
In der Geschichte von Adam und Chawa heißt es (1. Buch Mose 4,1): »Und Adam kannte Chawa.« Das hebräische Wort jada, kannte, wird hier als symbolische Umschreibung für die sexuelle Beziehung zwischen Adam und Chawa verwendet. Es könnte eigentlich kein schöneres Wort geben, bedeutet es doch, dass eine Partnerschaft tiefes Wissen über den anderen voraussetzt, sowohl, was die Gefühle, als auch, was den Verstand angeht.
Anziehung Die Regeln von Taharat Mischpacha sorgen einerseits dafür, dass die Ehepartner jenseits der sexuellen Attraktivität respekt- und liebevoll miteinander umgehen können. Andererseits stärken sie genau diese physische Anziehung durch die Zeit der intimen Abstinenz. Die schützt nämlich nicht nur Frauen vor dem Drängen des Mannes in einer für sie sensiblen Zeit, sondern, wie es der Talmud (Nidda 31b) formuliert: »... damit sie [nachher] ihrem Mann so lieb sei wie in der Hochzeitsnacht«.
Taharat Mischpacha soll die Ehe erhalten und stärken und ist zutiefst spirituell und bedeutsam. Für das Judentum ist es wichtig, Keduscha (Heiligkeit) in das Eheleben zu bringen. Vor allem die Trennungszeit zwischen Mann und Frau symbolisiert dies, wie Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) in seinem Kommentar zu 3. Buch Mose 18,19 schreibt: »Abgesehen von den gewiss auch hier vorwaltenden tiefen physiologischen Gründen, hebt kein Gesetz wie dieses das Geschlechtliche hinaus aus dem Bereich niedriger Sinnlichkeit und reiht es ein in den Kreis sittlich reinen, geheiligten Menschtums.«
Genau hierin besteht auch die Verbindung zwischen der rituellen Unreinheit der Frau nach der Geburt und der Beschneidung des Jungen. Wie Rabbiner Hirsch zu 3. Buch Mose 12,3 erklärt, »ist der siebentägige Zyklus der Unreinheit der vollendende Ablauf eines zu überwindenden Zustands«. Nach sechs Tagen trete der Mensch am siebten Tag »aus dem geschöpflich-unfreien in das im Bund mit G’tt zu gewinnende menschlich freie Dasein«. Der achte Tag könne als »Wiederholung des ersten Tages auf erhöhter Stufe begriffen« werden (»jüdische Oktave«). »Aufgrund der g’ttlich freien Menschennatur« baue sich dieser Tag »zur vollen und höheren Lösung der Bestimmung« als »Geburtstag zum jüdischen Beruf« auf.
Antworten Der Nebeneffekt der hygienischen Vorteile, wie sie etwa Maimonides, der Rambam (1135–1204), beschreibt, ist also nicht der Grund der Beschneidung, sondern, wie Rabbiner Josef Karo (1488–1575) zu 3. Buch Mose 12,3 erklärt: »Der Mensch wurde aus einem einzigen Grund geschaffen: um seinem Schöpfer zu dienen. Nachdem G’tt den Menschen geschaffen hatte: ›Und es nahm der Ewige, G’tt, den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, ihn zu bauen und zu warten. Und es befahl der Ewige, G’tt, dem Menschen also: ...‹ (1. Buch Mose 2, 15–16). Ebenso hier: › ...und gebiert ein Männliches ... Und am achten Tage soll beschnitten werden das Fleisch seiner Vorhaut‹, denn er wurde geboren, um G’ttes Gebot zu erfüllen. Die Brit Mila ist die erste und wichtigste Mizwa, ohne die er kein Jude ist. Durch die Beschneidung nimmt er das Joch des himmlischen Königreiches auf sich. Er wurde gekennzeichnet, um dem Ewigen zu dienen und seine Gebote zu erfüllen. Daher erscheint die Mizwa der Beschneidung im Zusammenhang mit der Geburt eines männlichen Kindes.«
Ehe, Familie und Glaube sind die Fundamente des Judentums, und genau dafür sind die spirituellen Aspekte von Unreinheit, Reinheit und Beschneidung auch heute noch essenziell wichtig. Unsere jüdischen Riten sind nicht anachronistisch, sie geben immer noch aktuelle Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit, wie beispielsweise die Fragen nach idealer Partnerschaft, Sexualität oder Spiritualität.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Darmstadt und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).
Tasria
Der Wochenabschnitt lehrt die Gesetze für die Wöchnerin und die Dauer der Unreinheit. Bei einem männlichen Kind wird zudem festgelegt, dass es am achten Tage nach der Geburt beschnitten werden soll. Außerdem übermittelt Tasria Regeln für Aussatz an Körper und Kleidung.
3. Buch Mose 12,1 – 13,59
Mezora
Im Wochenabschnitt wird die Reinigung von Menschen beschrieben, die von Aussatz befallen sind. Außerdem wird geschildert, wie mit Unreinheiten durch Aussonderungen der Geschlechtsorgane umzugehen ist.
3. Buch Mose 14,1 – 15,33