Herr Langer, wie sind Sie auf die Idee gekommen, die rabbinischen Traditionen für die aktuelle Bildungsdiskussion fruchtbar zu machen?
Ich halte die alten Texte der jüdischen Überlieferung nicht für verstaubt, sondern für die Gegenwart relevant. Und wir können von ihnen lernen.
Inwiefern?
In vielerlei Hinsicht. Der vielleicht wichtigste Punkt ist: Die rabbinische Tradition hat den Gelehrten ins Zentrum gerückt, als idealen Menschen. Dieser ideale Mensch verbindet religiöse Gelehrsamkeit mit Lebensweisheit und lässt daraus ein gerechtes, solidarisches Handeln folgen, er verknüpft Wissen mit Tun. Die rabbinische Tradition diskutierte nicht nur die Frage, wie man lehren und lernen soll, sondern welche Persönlichkeiten ausgebildet werden sollen. Wenn wir die Menschenbildung in der Bildungsdiskussion vernachlässigen, bilden wir reine Maschinen aus, die Aufgaben verrichten können, aber nicht reife Menschen, die auch in der Lage sind, schwierige Probleme verantwortungsvoll zu lösen, und zwar so, dass die Gesellschaft eine bessere als die aktuelle werden könnte.
Also das Gegenteil des Ziels der Beschäftigungsbefähigung für den Arbeitsmarkt?
In der rabbinischen Literatur ging es auch um das Lernen als Lernen – die Tora als Tora –, es war nicht entscheidend, was man damit in der Berufspraxis anfangen konnte. Vor allem zu Beginn waren die Toragelehrten oft auch in weltlichen Berufen tätig, die sie nebenbei ausgeübt haben – so wie einige moderne Schriftsteller bei uns, die im Brotberuf etwa Ärzte oder Juristen waren. Das Ziel war aber in späterer Zeit, von der Lehre leben zu können. Wenn man das auf heute hochrechnen würde, käme eine Welt aus lauter Uni-Professoren heraus, und die wäre natürlich auch nicht gerade erstrebenswert. Schon die rabbinische Literatur sagt: Man soll nicht in einem Ort leben, wo Gelehrte regieren, weil sie dafür scheinbar nicht geeignet sind. Dass man aber etwas lernt, das sich nicht nur und in erster Linie auf ein konkretes Berufsfeld bezieht, sondern auf ein Menschsein in Gemeinschaft, und aus dem ein Handeln folgt, das ist zentral.
Welches Wissen wird im Sinne der rabbinischen Literatur gelehrt?
Die klassischen Texte haben versucht, möglichst alle Wissensgebiete abzudecken. Der religiöse Bereich im engeren Sinn war dabei ein wichtiger, aber nur kleiner Teil. Es ging genauso um Rechtsfälle, Naturwissenschaften, Medizin, Astronomie, Umwelt, Wirtschaft und natürlich Ethik: Wie soll man sich gegenüber der Schöpfung verhalten, wie gegenüber dem Partner oder den Mitmenschen? Wie ist ein solidarisches Wirtschaften möglich, das nicht auf Ausbeutung beruht?
Die Schule hatte also allgemeinbildenden Charakter. Gibt es auch Empfehlungen für Struktur oder Form der Lehre?
Die rabbinische Ausbildung war mehrgliedrig: In den Grundschulen hat eine größere Anzahl von Kindern ab etwa sechs Jahren gepaukt. Sie haben durch ständige Wiederholungen Texte auswendig gelernt. Das Prinzip lautet: Bevor ich eine Sache nicht gut kann, soll ich nicht zur nächsten übergehen. Ein weiterer, für heute relevanter Punkt: Die begabten Schüler sollten sich neben die weniger begabten setzen, um durch sie zu lernen, wie überhaupt das Lernen nur in intensiver gemeinsamer Anstrengung der Schüler und nicht allein erfolgen soll. Das steht im Gegensatz zu der heutigen Meinung, wonach die weniger Begabten das Niveau einer Klasse senken würden. Ganz wichtig war auch eine individuelle Betreuung durch und ein direkter Bezug zum Lehrer. Es gibt Empfehlungen für eine Klassenobergrenze von 25 Schülern. In den höheren Studien bleiben nur mehr wenige Studierende, was ein Traumbetreuungsverhältnis ergibt. Dazu haben die Rabbinen auch öffentliche Vorträge gehalten, die der breiten Bildung gedient haben.
Wenn Sie drei Punkte nennen würden, bei denen man sich heute an das rabbinische Vorbild halten soll, welche wären das?
Erstens die Form des Lernens, bei der das Wiederholen, Lernen und Diskutieren in Gruppen zentral ist sowie intensive Gespräche zwischen Lehrern und Schülern in einer Art Gesamttagesschule. Zweitens die Verbindung von Lehre und Ethik: Angehalten zu werden, dass das Gelernte auch gelebt wird; nicht unbedingt im Sinne besserer Berufschancen, sondern im Sinne einer Lebensführung. Das wird heute zu wenig unterrichtet. Drittens können wir aus vielen Beispielen ersehen, wie zentral eine gute Finanzierung des Studiums für alle ist. Die war auch damals schwierig, je weiter und länger ein Studium ging, umso schwieriger. Es gibt Erzählungen, die über die Armut der Schüler berichten. Die Lehrer werden darin zum Teil angehalten, ihre Schüler einzuladen.
Gibt es auch Bereiche, in denen man sich keine Vorbilder nehmen sollte?
Natürlich. In der Regel geht es in den rabbinischen Texten nur um die Bildung von Männern, auch wenn es ein paar anderslautende Quellen gibt. Das ist heute natürlich inakzeptabel.
Mit dem stellvertretenden Vorstand des Instituts für Judaistik an der Universität Wien sprach Lukas Wieselberg. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von science.orf.at