Unser Wochenabschnitt beginnt mit den Worten: »Schoftim weSchotrim titen-lecha, bechol-Scha’arejcha (...)« – »Richter und Aufseher sollst du in allen deinen Toren (...) für deine Stämme einsetzen, dass sie das Volk mit Gerechtigkeit richten« (5. Buch Mose 16,18).
Das sind wichtige und wohlbekannte Worte. Weiter heißt es: »Du sollst das Recht nicht beugen, du sollst kein Ansehen der Person kennen, und du sollst Bestechung nicht annehmen, denn Bestechung macht die Weisen blind und verdreht die Worte der Gerechten« (16,19).
Man sieht, die Risiken waren schon damals bekannt. Es soll also durchaus möglich sein – und leider ist es gelegentlich auch nötig –, sogar einen Ministerpräsidenten vor Gericht zu stellen und ihn, genauso wie andere Bürger, zu vernehmen und zu bestrafen. In Israel, einem demokratischen Rechtsstaat, ist das schon vorgekommen. Es soll keine Privilegien geben, das heißt, kein privates oder Ausnahmegesetz für einige wenige, die sich über das »normale Gesetz« erheben.
Amt Warum brauchen wir Richter? Und wer darf dieses Amt bekleiden? Kann ein Richter tatsächlich gerecht sein? Wie kann er (oder sie) dafür sorgen, dass aus einem Schlamassel lückenhafter Beweise und widersprüchlicher Zeugenaussagen und Spuren eine richtige Entscheidung getroffen wird?
Ein Gericht kann nichts ungeschehen machen, keinen Schmerz, kein Leid und auch keinen Verlust – aber es kann einer Person, die Klage eingereicht hat, das Gefühl geben, gehört und ernst genommen zu werden. Manchmal ist das fast ebenso wichtig, wie einen Prozess zu gewinnen. Man durfte klagen, man durfte aussagen, es ist etwas erreicht worden. Das gibt dem Opfer seine Würde zurück.
In diesem Kontext steht der Richter als ein Vertreter Gottes. An einigen Stellen im Tanach werden Richter tatsächlich als »Elohim« (Gott) bezeichnet. In Psalm 82 finden wir ein wunderbares Gedicht über das Richteramt – mit scharfer Kritik an schlechten Richtern. Im 5. Buch Mose 25, 1–3 und im zweiten Buch der Chronik 19,7 finden wir Ratschläge für Richter. Es gibt gute und schlechte Juristen. Man hofft, dass nur die besseren zum Richteramt zugelassen werden. Denn wenn das Recht nichts mehr mit Gerechtigkeit zu tun hat, ist eine Gesellschaft in Gefahr.
minister Dies war in den 30er-Jahren in Deutschland der Fall. Die »Niedersächsische Tageszeitung« veröffentlichte am 21./22. Januar 1933 einen Offenen Brief des Hannoveraner SA-Führers Lutze an Reichsjustizminister Franz Gürtner. Darin beschwert sich der SA-Mann über meinen Großvater, der damals Amtsgerichtsrat in Hannover war.
Die Bevölkerung Hannovers sei »entrüstet und empört« über ihn wegen »eines Problems, das dringend und umgehend der Bereinigung bedarf«, schreibt Lutze. Das Amtsgericht Hannover habe den »jüdischen Amtsgerichtsrat Dr. Rothschild« in einem Verfahren gegen zwei SA-Männer zum Vorsitzenden berufen. »Die Vernehmung der Beklagten erfolgte von Seiten des Dr. Rothschild in überaus provokatorischer und unsachlicher Form. Der Verteidiger der Angeklagten bezweifelte daraufhin die Unbefangenheit des jüdischen Vorsitzenden und wurde von diesem in einer Art und Weise behandelt, die weit über das Maß des Erträglichen und Erlaubten hinausgeht.«
SA-Führer Lutze appelliert an den Minister: »Es dürfte auch Ihnen nicht entgangen sein, daß das deutsche Volk, soweit es die nationalsozialistische Weltanschauung vertritt – und das sind rund 40 Prozent der Gesamtbevölkerung Deutschlands –, die jüdischen Fesseln abzustreifen sich anschickt.«
Lutze wird dann noch deutlicher und schreibt: »Wir verbitten es uns, daß man Vollblut- und Halbblutjuden als Richter über deutsche Menschen einsetzt. Wir fordern, daß der verantwortliche Amtsgerichtsdirektor, der für den oben genannten Vorgang die Verantwortung trägt, zur Rechenschaft gezogen wird.« Der Minister solle, so Lutze, die jüdischen Juristen »schnellstens in der Versenkung verschwinden lassen«.
verhandlung Mein Großvater reagierte auf den Offenen Brief, indem er seinem Vorgesetzten den Vorgang ausführlich beschrieb: »In der Verhandlung (...) wurde den beiden Angeklagten, den SA-Leuten Krohne und Rustein, zur Last gelegt, zusammen mit etwa 30 anderen SA-Leuten den (sozialdemokratischen) Reichsbannerangehörigen Drewicke in der Turmschänke des Pferdeturms, einem nationalsozialistischen Verkehrslokal, misshandelt zu haben. (…) Am Schlusse seiner Vernehmung fragte ich Krohne, (...) ob er es für richtig hielte, wenn 30 Menschen einen Einzelnen überfielen. Der Angeklagte antwortete hierauf nicht. Bei der Vernehmung des Rustein bestritt auch dieser jede Teilnahme an der Schlägerei. (...) Er antwortete wiederholt in einem Tone, den ich in steigendem Maße als ungehörig empfand.«
Mein Großvater wies den Angeklagten darauf hin, dass er sich vor Gericht eines angemessenen Tones zu bedienen habe. »Hierauf trat der Verteidiger Dr. Sibeth (…) vor und erklärte in einem überaus scharfen und lauten Tone, er protestiere gegen die Art der Vernehmung der Angeklagten, diese lasse erkennen, dass der Vorsitzende gegen die Angeklagten voreingenommen sei. (…) Erregt erklärte er, dass er ›den Vorsitzenden wegen Befangenheit ablehne‹.«
Mein Großvater befand sich in einer schwierigen Situation. Als Jude galt er automatisch als »befangen« und wurde in der Öffentlichkeit beleidigt.
nürnberger GESETZE Wie wir wissen, brauchte man später, im September 1935, nur ein paar neue Gesetze einzuführen, und plötzlich war es legitim, gesetzlich erlaubt und geradezu vorgeschrieben, bestimmte Personengruppen zu missbrauchen, zu vertreiben, zu enteignen, zu demütigen und am Schluss sogar zu ermorden.
Als Jude galt mein Großvater automatisch als »befangen«.
Die biblischen Verse, die uns befehlen, alle gleich zu behandeln, galten nicht mehr. Das »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der Ehre«, die sogenannten Nürnberger Gesetze von 1935, machten deutlich, was im NS-Staat wirklich zählte: nicht Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Gleichheit, sondern Abstammung.
Nach 1945 blieben viele Richter in Nachkriegsdeutschland im Amt, denn sie hatten ja, so argumentierte man, nur das Gesetz erfüllt und damit als Richter ihre Pflicht getan.
Wir sehen: Man braucht nicht nur Schoftim (Richter) und Schotrim (Polizisten, Wachleute), sondern auch Dinim (Gesetze), die fair und klar sind und sowohl menschlich als auch göttlich. Die Tora ist ein guter Anfang.
Der Autor ist Rabbiner bei Beit Polska, dem Verband progressiver jüdischer Gemeinden in Polen.
inhalt
Im Wochenabschnitt Schoftim geht es um Rechtsprechung und Politik. Dabei steht zunächst die Regierung im Vordergrund. Es werden Gesetze über die Verwaltung der Gemeinschaft mitgeteilt sowie Verordnungen für Richter, Könige, Priester und Propheten. Die Tora betont, dass die Kinder Israels in jeder Angelegenheit nach Gerechtigkeit streben sollen. Bevor mit Verordnungen zum Verhalten in Kriegs- und Friedenszeiten geschlossen wird, weist die Tora darauf hin, dass ein Israelit, der einen anderen ohne Absicht totgeschlagen hat, sich in einer von drei Zufluchtsstädten vor Blutrache retten kann.
5. Buch Mose 16,18 – 21,9