Wenn eine Familie ein Kind erwartet, kann man davon ausgehen, dass sich die Eltern nicht nur über die Geburt, sondern auch über die Erziehung eine Menge Gedanken machen. Die Fachzeitschrift Jugend-Familie-Erziehung lesen vielleicht nicht alle, aber dafür die unzähligen Heftchen, die es beim Frauenarzt und in den Apotheken gibt. Oder zumindest liest man die Zeitschrift Eltern und ist in einem von Hundert Internetforen dabei. Dort werden ja ganz wichtige Fragen aufs Ausführlichste besprochen. Wie viel Sitzen ist eigentlich okay für Ihr Baby? Babyschwimmen, Krabbelgruppe oder Pekip? Wann ist die Trotzphase endlich vorbei? Wie beginnen Sie die Sauberkeitserziehung? Welche Schule wählen Sie für Ihr Kind?
Alle Fragen, Antworten und Forendis-kussionen gehen dabei nur in eine Richtung: vom Elternteil zum Kind. Man überlegt sich wie, wann und auf welche Weise dem Kind etwas beigebracht werden soll. Wenn es mal um die Eltern selbst geht, werden die Mütter angesprochen, ob sie sich auch danach sehnen, mal wieder einfach »nur« eine Frau zu sein? Vital, aktiv und entspannt? Der Diätcoach hilft Ihnen dabei. Er zeigt Ihnen, wie Sie trotz Alltag mit Kind Pfunde verlieren, Sport treiben und relaxen können.
Chinuch Die jüdische Erziehung – Chinuch – geht jedoch in eine vollkommen andere Richtung. Das ganze Familienkonzept, das uns die Halacha klar vorgibt, basiert auf einem Selbsterziehungsprozess. Die Gründung der Familie ist eine Art Lebensanfang, sie dient der Selbstvervollkommnung. Die Heirat selbst ist dabei eine Pflicht. Spannenderweise eine Pflicht für den Mann. Unsere Weisen erklären, dass in einer körperlich und seelisch gesunden Frau ein Begehren nach einem Mann, der sie liebt, sowie nach wundervollen, süßen Babys in der Regel vorhanden ist. Der Mann ist anders veranlagt, und die Heirat wird ihm als Pflicht auferlegt.
Dabei ist jedoch zentral, dass beide Ehepartner dauerhaft an der eigenen, inneren Erziehung arbeiten. Bereits vor der Ehe lernen die Braut und der Bräutigam bei einer Rebbezin beziehungsweise bei einem Rabbiner über die ganz spezifischen Bedürfnisse des Ehegatten, die in den meisten Fällen ganz andere als die eigenen sind. Rabbiner Eliyahu Dessler sagt dazu: Wenn man jemandem etwas gibt, liebt man ihn, weil man gibt. Die Wurzel des Wortes Liebe – Ahava – ist »geben«. Die »Investition« in eine Person kommt vor der Liebe zu dieser Person. So kann man auch sagen, dass wir unsere Kinder lieben, weil wir so viel für sie tun und in ihren Erfolgen auch unseren eigenen Erfolg fühlen. Präzise ausgedrückt sehen wir daran das Ergebnis der Arbeit – unserer eigenen harten Arbeit.
Reflexion Im jüdischen Kontext geht es dabei jedoch nicht primär um schlaflose Nächte, Verzicht auf ein teueres Auto oder den täglichen Stress. Es geht um die Arbeit an uns selbst. Denn 20 oder 30 Jahre steht jeder von uns »im Zentrum des Universums«, und plötzlich ist hier ein Partner und später Kinder mit scheinbar so ganz anderen Bedürfnissen, Ansichten, Charaktereigenschaften und Fähigkeiten. Damit die Familie zu einem Segen und nicht zum Fluch wird, muss man an dieser Stelle eine innere Umfokussierung vollziehen. Von dem, was man selbst gern hat oder was man tun will auf die Wünsche und Neigungen der anderen Familienmitglieder.
Leicht können wir bei ganz genauem Hinsehen feststellen, dass unsere Kinder uns vom Schöpfer der Welt gegeben werden, um uns in der Arbeit an uns selbst zu unterstützen. Wenn wir merken, wie unsensibel ein Kind ist, sollten wir uns Gedanken darüber machen, ob wir es selbst vielleicht auch sind.
Selbstkontrolle Am Sonntagmorgen, wenn die Mutter noch schläft, passt der Vater lobenswerterweise auf das dreijährige Töchterchen auf. Er erklärt ihr, sie würde etwas Leckeres bekommen, wenn sie schön ruhig spielen würde. Er selbst sitzt nun gemütlich da, liest die brandneue Fachzeitschrift und trinkt seinen zweiten Kaffee. Doch plötzlich passiert es: Das Türmchen fällt zusammen, und es gibt lautes Kindergeschrei ohne Ende. »Es ist doch nichts passiert! Warum schreist du so?«, brüllt er los. Der Vater erwartet von der Kleinen, dass sie sich nicht wegen Kleinigkeiten aufregt und nicht gleich schreit. Er denkt, sie müsse sich nur besser kontrollieren. Doch gleichzeitig tut er dasselbe. Er hat die Situation nicht unter Kontrolle – und darüber regt er sich auf. Genau wie das Kind sich darüber empört, dass die Bauklötze nicht so liegen bleiben, wie es sich das wünscht.
Das ist ein Beispiel für die perfekte Möglichkeit, die eigene Selbstbeherrschung zu trainieren, vielleicht sogar im Zusammenhang mit der Entwicklung der eigenen und der kindlichen Empathie. Denn für ein Kind sind die kleinen Dinge, die nicht so funktionieren, wie es sich das vorstellt, auf der emotionalen Ebene nicht minder bedeutend als unsere echten Probleme. Wenn der Vater also seine zweite Tasse Kaffee jemals in Ruhe trinken möchte, sollte er lieber die Kleine in den Arm nehmen und über den zusammengestürzten Turm trösten, mit ihr fühlen. Hört sich das unvorstellbar an? Nein. Es ist lediglich ungemein schwer, sich so kontrollieren zu können. Doch soll uns dazu wenigstens die Tatsache ermutigen, dass nur auf diese Weise ein Kind lernt, so mitzufühlen, dass es uns die alltägliche Tasse Kaffee trinken lässt.
Die Pädagogin Miriam Levi schreibt in ihrem Buch Effective Jewish Parenting über den wichtigsten Grundsatz der erfolgreichen Erziehung: die Vermittlung von Tugenden und Charakterstärken durch das eigene gute Beispiel.
Praxistest Das klingt auf jeden Fall logisch, doch ist es auch so einfach, dies während unserer alltäglichen Strapazen umzusetzen? Jeden Nachmittag holt die berufstätige, liebende Mutter ihren Vorschuljungen ab. Sie begrüßt ihn mit einem dicken Schmatzer, bewundert das neue Pflaster, bedankt sich bei der Erzieherin und hört sich mit anteilnehmendem Blick seine »Gabriel-hat-mich-gekniffen«-Geschichte an. Schon sitzen sie im Auto und fahren nach Hause. Nun kommt der Stau und dann die roten Ampeln. Dann nimmt man ihr auch noch die Vorfahrt. Kann sich doch jeder die wüsten Beschimpfungen leicht vorstellen, die in die heile akustische Welt des Kindes – das hört gerade die Kassette vom »Traumzauberbaum« – einbrechen.
Die kognitive Psychologie beschäftigt sich recht viel mit der Frage der emotionalen Kontrolle. Nachgewiesen ist, dass es nicht die tatsächlichen Lebensumstände und Situationen sind, die uns zum »Ausrasten« bringen, sondern die in der Kindheit erlernte Methode mit diesen umzugehen. Natürlich lernt ein Kind auch von Lehrern, Großeltern und Freunden. Mit Abstand die größte Bedeutung spielen bei dem Erlernen dieser Methoden jedoch die eigenen Eltern. Wenn sich die Mutter über die übersprudelnde Suppe, über schmutzige Hände und Socken auf dem Schrank ganz furchtbar ärgert, lernt auch das Kind sich über jede Kleinigkeit aufzuregen. Und wenn das Kind sich über jede Kleinigkeit zu ärgern lernt und gleich einen Wutanfall kriegt, wenn es sich wegen Schnupfen nicht im Schnee wälzen soll, wie fühlt sich die liebende Mutter dann?
Die Mutter befindet sich in einem Teufelskreis, der nur dann durchbrochen werden kann, wenn sie ganz bewusst damit beginnt, an sich selbst zu arbeiten. Wenn die Handlungen des Lebenspartners eigennützig erscheinen, soll man also nicht mit Kritik anfangen, sondern sich ernste Gedanken machen, inwiefern man selbst egoistisch ist.
Verhalten Die gleiche innere Arbeit muss uns beschäftigen, wenn unsere Kinder so ungeduldig sind. Es handelt sich um eine innere, verborgene, für niemand sichtbare schwere Arbeit. Für sie bekommen wir weder Gehalt noch Lob. Doch gerade sie verändert unser Leben positiv, wenn sie konstruktiv und konsequent ausgeführt wird. Ausgeführt in Handlungen, wie unsere Weisen sagen: Der Mensch formt sich durch seine Handlungen. Sein Herz und seine Gedanken folgen seinen Taten.
Wenn wir daran arbeiten, im Rahmen eines Selbsterziehungsprozesses unser gewohntes Verhalten zu ändern und täglich die emotionale Kontrolle üben, entwickeln sich langsam neue, positive Verhaltensweisen und Denkmuster. So kann jeder Teufelskreis des falschen Verhaltens und negativer Gedankens nachhaltig durchbrochen werden.