Eines Tages wollte Rabbi Abbahu ein Glas Wasser trinken. Sein Sohn Avimi brachte ihm das Glas. Doch als er seinen Vater erblickte, war dieser bereits eingeschlafen. Um das Gebot »Ehre deinen Vater und deine Mutter« zu erfüllen, beschloss Avimi, seinen Vater nicht zu wecken, sondern zu warten, bis er aufwacht. Während des Wartens wurde Avimi für das Erfüllen des Gebotes belohnt: G’tt gab ihm einen neuen und originellen Gedanken, um den 79. Psalm zu interpretieren (Kidduschin 31b).
Die talmudische Geschichte endet hier, doch der mittelalterliche Kommentator Raschi (1040–1105) geht auf diese Geschichte noch tiefer ein. Seiner Meinung nach bestand die Interpretation Avimis aus einer Erklärung der ersten beiden Worte im Text des 79. Psalms. Er beginnt mit den Worten: »Ein Lied Asafs« und handelt von der Zerstörung des Tempels.
Güte Laut Raschi fragte sich Avimi, wieso ein solch trauriger Psalm nicht mit den Worten »Ein Klagelied Asafs«, sondern mit den Worten »Ein Lied Asafs« eingeleitet wird. Avimi erkannte, dass die Zerstörung des Jerusalemer Tempels eigentlich ein Akt der Güte war. G’tt zerstörte zwar den Tempel, doch das jüdische Volk durfte weiterleben.
Der Talmud betont: »Ständig sollte sich der Mensch sagen: Alles, was der Barmherzige geschehen lässt, passiert zum Guten«.
Diese Interpretation erinnert sehr stark an eine andere talmudische Geschichte. Im Traktat Brachot (7b) interpretieren die Weisen die Einleitung des dritten Psalms »Ein Lied Davids, als er vor seinem Sohn Awschalom floh«. Auch hier wären die Worte »Klagelied« passender gewesen, denn es geht ja um Davids Flucht vor dem eigenen Sohn.
Der Talmud erklärt, David habe verstanden, dass es sich um einen verborgenen Akt der g’ttlichen Güte handelte.
INTERPRETATION Sowohl Raschis Kommentar zur Geschichte von Rabbi Abbahu und Avimi als auch die talmudische Interpretation zur Geschichte von David und Awschalom sind optimistische Auslegungen trauriger Geschichten. Kritiker würden sogar von unrealistischen Beschönigungen sprechen.
Doch diese Interpretationen bringen eine im Judentum fest verankerte Idee zum Vorschein – eine Idee, die in zahlreichen talmudischen Aussagen veranschaulicht wird.
Der Talmud betont: »Ständig sollte sich der Mensch sagen: Alles, was der Barmherzige geschehen lässt, passiert zum Guten« (Brachot 60b).
Alejnu Jeden Tag beten fromme Juden das Alejnu-Gebet. Auch darin verbirgt sich die oben genannte Idee. Das Gebet endet mit den Worten des Propheten Secharja (14,9): »An jenem Tag wird der Ewige eins und sein Name eins sein«.
Der Talmud (Pessachim 50a) ist über die Worte des Propheten zunächst sehr bestürzt. Wenn G’tt erst »an jenem Tag eins« sein wird, impliziert es doch, dass es zurzeit noch nicht so ist. Dies widerspricht ganz klar dem Glaubensbekenntnis des Judentums: »Höre Israel, der Ewige ist dein G’tt, der Ewige ist eins.« Der Talmud antwortet auf dieses Dilemma: G’tt ist das ultimative Gute, und deswegen ist das in der Welt existierende Böse ein Widerspruch zur Idee seiner Einheit. Wenn das Gute einzig ist, so sollte das Böse doch keinen Platz mehr haben. Heute gibt es Dinge, die wir in unserer Subjektivität als positiv bewerten, und Dinge, die wir als negativ bewerten.
Objektiv gesehen, ist daher G’tt zwar einzig, doch unsere Wahrnehmung hat das Elend der Welt als Gegenpol zu dieser Einheit ständig vor Augen. »An jenem Tag«, also an dem Tag, an dem das messianische Zeitalter anbricht, soll auch das von uns Menschen als schlecht Empfundene eine Neubewertung erhalten. Alles ist ein Ausdruck g’ttlicher Güte, unabhängig davon, ob diese gerade erkennbar ist oder nicht. Der Widerspruch soll an jenem Tag aufgelöst werden, damit jeder erkennt, dass G’tt wahrlich eins ist.