Die Abschnitte Wajakhel und Pekudej beschreiben den Bau der Stiftshütte. So wie der Tempel das Herz der Welt ist und die Verbindung zu G’tt, ist die Stiftshütte die Verbindung zwischen Himmel und Erde, zwischen Spiritualität und Materie.
Die Welt kann bestehen, weil es den Tempel gibt und dieses Heiligtum das Ziel der Wirklichkeit deutlich macht und parallel zur Schöpfung der Welt steht. Der im Wochenabschnitt Wajakhel beschriebene Bau der Stiftshütte symbolisiert die Erschaffung der Welt, aber der Tempel wurde vom Menschen gebaut, nach G’ttes Plan und Anweisung.
Wie die Welt erschaffen wurde, beschreibt die Tora in 34 Versen. Doch über die kleine Stiftshütte – ein winziges Zelt – berichtet die Tora in rund 450 Versen! Warum das so ist? Sie will uns zeigen, dass der Mensch, um G’tt zu dienen, etwas leisten muss, damit Er bereit ist, zu uns zu kommen und unter uns zu sein: »Und sie sollen mir ein Heiligtum errichten, dass ich mitten unter ihnen wohne« (2. Buch Moses 25, 8).
Durch diesen Tempel tritt das Licht zum Bau der Welt für die Menschheit ein. So versinnbildlicht zum Beispiel das Brot (lechem hapanim), das man im Tempel zubereitete, die Wirtschaft der Welt, und das Licht der Menora steht für die spirituelle Kultur der Menschen. Die Natur mit ihrer Materie läuft parallel zur spirituellen Welt, und dies alles verbindet die Realität mit dem Schöpfer.
ruhe halten »Und Mosche versammelte die ganze Gemeinde der Kinder Israels und sprach zu ihnen: ›Dies ist es, was der Ewige zu tun befohlen hat: Sechs Tage hindurch darf Arbeit verrichtet werden, am siebenten Tag aber sei euch ein heiliger, hoher Schabbat, dem Ewigen zu Ehren. Wer an ihm Arbeit verrichtet, soll getötet werden. Ihr sollt in allen euren Wohnsitzen am Schabbat kein Feuer anzünden‹« (2. Buch Moses 35, 1-3). Das bedeutet: Das Halten des Schabbats genießt höhere Priorität als der Bau der Stiftshütte.
In unserer Welt sind die Werte der Zeiten mit den Werten der Ewigkeit vermischt. Die Gegenwart schöpft aus der Zukunft. Die Ruhe des Schabbats ist wie eine Invasion des ewigen Lebens in die Heiligkeit. Um diese Idee zu verwirklichen, musste der Tempel gebaut werden. Er verbindet die säkulare mit der heiligen Welt und die Zeit mit der Ewigkeit. Der Opferdienst im Tempel soll das Weltliche heiligen und G’ttes Licht alle Taten der Menschheit beleuchten, damit der Schabbat als Ruhe für ein ganzes Leben gilt. Dies verstehen wir als große Zukunft für die jüdische Welt.
Ziel Rabenu Bachje sagt, dass der Bau des Tempels die für den Schabbat festgelegten Arbeitsverbote nicht außer Kraft setzt. Denn wir können ein heiliges Ziel nicht erreichen, indem wir unheilige Mittel anwenden. Wir dürfen keinen Unterschied zwischen Ziel und Weg zulassen, denn auch die zum Ziel führenden Wege müssen in jedem Falle heilig sein. Genauso können wir keine Zukunft bauen, ohne sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Gegenwart zu schauen. Wir müssen also den Schabbat halten und bewahren, um das Ziel zu erreichen: den Bau eines Tempels.
Opfer darzubringen war am Schabbat allerdings erlaubt. Das heißt: Die Praxis des Schabbats damals im Tempel hat mit dem Erleben des Schabbats, wie wir es heute gewohnt sind, nichts gemein. Warum dies so ist? Es gibt einen Widerspruch zwischen der Welt der Natur und der Schöpfung. Wir Menschen sehen nur die Natur und was in ihr vorgeht. Die Natur unterliegt festen Regeln. Aber wir sehen mit unseren Augen nicht die Schöpfung und erleben dabei nicht die Lebenskraft G’ttes. Der Ewige verbirgt sich in aller Natur bis zur Unsichtbarkeit. Die Welt selbst ist auch in der Natur verborgen.
wahlmöglichkeit Der Grund für G’ttes Verborgenheit und den Widerspruch zwischen Natur und Schöpfung besteht darin, dass dem Menschen die Möglichkeit gegeben sein soll, selbst zu wählen und zu handeln. Anschaulich wird dies bei dem Gebot der Brit Mila. Wenn G’tt gewollt hätte, dass alle jüdischen Knaben beschnitten zur Welt kommen, hätte er es so anordnen können. Aber er bietet die Wahl an, diesen Akt, die Mizwa der Brit Mila, selbstbestimmt durch eigene Entscheidung durchzuführen.
Wenn alles vorherbestimmt wäre und klar vorbereitet vor unseren Augen liegen würde, gäbe es den freien Willen nicht. Die Auswahl der Wege und Mittel für unsere Absichten und Wünsche geschieht durch unsere Gedanken. G’tt bleibt hierbei scheinbar unbeteiligt, weil unsichtbar. Damit ermöglicht er uns, für ihn Partner bei der Gestaltung der Welt zu sein.
Der Autor ist Landesrabbiner von Sachsen.