Dankbarkeit

Alles im Fluss

Weil der Nil Mosche versteckte, als er im Alter von drei Monaten in einem Weidenkörbchen am Ufer lag, durfte er später das Wasser nicht schlagen. Foto: Foto: Thinkstock, Illustration: Tal Griffit

Die ersten zwei Plagen, die Ägypten befielen, hatten mit Wasser zu tun. In der ersten verwandelten sich die Gewässer Ägyptens in Blut (2. Buch Mose 7,20). Bei der zweiten Plage kamen Frösche aus dem Wasser (2. Buch Mose 8,1). Um diese wundersamen Ereignisse herbeizuführen, berührte Mosches Stab das Wasser. Doch nicht er selbst hielt den Stab – G’tt hatte ihn angewiesen, das Schlagen seinem Bruder Aharon zu überlassen.

Warum durfte Mosche es nicht selbsttun? Die Weisen sagen uns, dass er das Wasser nicht schlagen durfte, weil der Nil sein Versteck war, als er dort im Alter von drei Monaten in einem Weidenkörbchen lag, in Sicherheit vor den Soldaten des Pharaos,
die alle männlichen jüdischen Kinder töteten.

Es wäre unpassend, wenn jemand, der durch Wasser gerettet wurde, dieses schlagen würde.

Die nächste Plage, das Ungeziefer, kam aus der Erde. Nachdem die Erde mit Mosches Stab geschlagen worden war, kam es heraus und befiel ganz Ägypten. Abermals wurde Mosche angewiesen, nicht der Ausführer der Umwandlung zu sein. Immerhin musste er der Erde dankbar sein, weil sie den ägyptischen Aufseher versteckt hatte, den er tötete, nachdem jener einen jüdischen Sklaven geschlagen hatte.

Hilfe Haben Wasser und Erde Gefühle? Würden sie merken, wer sie schlägt? Dennoch wurde Mosche von G’tt angewiesen, sie nicht zu schlagen, weil sie »für ihn da gewesen waren« in seinem Leben.

Hinzu kommt, dass Mosche zur Zeit der Plagen 80 Jahre alt war. Die Ereignisse mit dem Wasser und der Erde trugen sich zu, als er ein Kleinkind beziehungsweise ein junger Mann war. Und dennoch: Auch so viele Jahre später sollte er so sensibel sein und nichts schlagen, das ihm einst geholfen hatte.

Dahinter verbirgt sich eine unglaubliche Botschaft an uns über die Bedeutung der Dankbarkeit. Wenn wir gegenüber dem Wasser und der Erde dankbar sein sollen, wie viel mehr sollten wir dann Menschen danken, die irgendwann einmal für uns da gewesen sind? In den Worten des Talmuds: »Ein Mensch sollte keinen Stein in den Brunnen werfen, aus dem er getrunken hat.«

Denken Sie an einen Menschen, der für sie da gewesen ist, auch wenn es vor vielen, vielen Jahren war, vielleicht als Kind, als Teenager oder als junger Erwachsener. Haben Sie sich ihm oder ihr gegenüber erkenntlich gezeigt? Haben Sie »Danke« gesagt?

Segen Es gab noch einen Menschen, der wie Mosche dem Nil sehr dankbar sein musste. Dieser Mensch war kein Geringerrer als der Pharao, der König von Ägypten. Die Tora erzählt, dass viele Jahre zuvor Jakow dem Pharao einen besonderen Segen übermittelt hatte: Wann immer er sich dem Nil näherte, würde sich der Fluss ihm wie zum Gruß erheben.

Und so geschah es: Wann immer der Pharao zum Nil ging, erhob sich das Wasser bis zu seinen Beinen und floss dann in die Kanäle, um die ägyptische Erde zu bewässern. In Ägypten, wo es wenig regnet, ist der Nil von großer Bedeutung, denn er bewässert das gesamte Land.

Es schuldeten also beide, sowohl Mosche als auch der Pharao, dem Nil etwas. Aber schauen Sie sich die unterschiedlichen Erwiderungen gegenüber dem Fluss an! Was tat der Pharao mit ihm? In der Tora steht, dass er jeden Morgen zum Nil gegangen sei (2. Buch Mose 7,15). Warum tat er das? Er benutzte den Fluss als Toilette. So »dankte« der Pharao dem Nil für dessen Güte.

Und wie verhielt sich Mosche acht Jahrzehnte, nachdem er vom Nil profitiert hatte? Er schlug ihn nicht mit seinem Stab.

Wie verhalten Sie sich gegenüber Menschen, die in der Vergangenheit gut zu ihnen waren? Wie zeigen Sie sich großzügigen, offenherzigen, weichen und liebenswürdigen Menschen erkenntlich? Einige von uns haben keinerlei Bedenken, auf ihnen herumzutrampeln, wie es einst der Pharao tat. Diese Angestellten, Freunde, Ehepartner, die sich stets bis zu unseren Beinen erheben, nutzen wir ohne Skrupel aus.

Hund Der amerikanische Schriftsteller Mark Twain hat einmal gesagt: »Wenn man einen hungernden Hund mitnimmt und ihn wohlhabend macht, dann wird er
einen nicht beißen. Dies ist der wesentliche Unterschied zwischen einem Hund und einem Menschen.«

Oder wie unserer Großeltern zu sagenpflegten: »Warum hasst er mich so? Ich habe ihm doch nie einen Gefallen getan.«

Mosche hat uns einen anderen Weg gezeigt. Selbst acht Jahrzehnte, nachdem ihn der Nil versteckte, spürte er dieses warme Gefühl. Er erinnerte sich, bewusst oder unbewusst, wie das Wasser ihn umhüllt hatte, als sein Leben in Gefahr war, und konnte die Hand nicht gegen dieses Wasser erheben.

Wenn jemand etwas für uns tut, auch wenn er es tun musste und er sich nicht besonders zu bemühen brauchte (so wie im Falle des Nils, der Mosche beschützte), oder selbst wenn er oder sie es aus eigennützigen Motiven getan hat, so schulden wir ihm Dankbarkeit.

Das, was wirklich zählt, sind die guten Taten, die man für andere Menschen tut. Manche mögen innerlich besonders nobel
sein. Alles, was sie tun, ist rein und kultiviert. Aber bis sie etwas tun, kann man verhungern. Andere wiederum sind nicht so perfekt, aber sie helfen ihren Mitmenschen
sofort, und das ist die Hauptsache. Also sagen wir: Danke!

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Waera erzählt, wie die Kinder Israels Mosche und Aharon kein Gehör schenkten, obwohl G’ttes Name
ihnen von Mosche offenbart worden war. Mosche verwandelt vor den Augen des Pharaos seinen Stab in ein Krokodil und fordert den Herrscher auf, die Kinder Israels ziehen zu lassen. Doch der Pharao bleibt hart, und so kommen die ersten sieben Plagen über Ägypten: Blut, Frösche, Ungeziefer, wilde Tiere, Viehseuche, Aussatz und Hagelschlag. Auch danach bleibt der Pharao hart und lässt die Kinder Israels nicht ziehen.
2. Buch Mose 6,2 – 9,35

Ki Tawo

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