Am Schabbat in der Synagoge mache ich nach der Toravorlesung immer eine kleine Pause. Nicht lange, so etwa zehn Minuten. Ich geh dann immer Kaffee trinken und schwatze ein wenig mit anderen Betern. Auch auf die Toilette gehe ich häufig. Ich sitze nämlich in der Synagoge genau in der Mitte einer langen Bankreihe.
Ich getraue mich nur selten – und in äußerster Not – während des Gottesdiensts auf die Toilette zu gehen. Links und rechts von mir beten nämlich viele alte Männer. Wenn die wegen mir aufstehen, nur weil ich kurz pinkeln muss, bekomme ich immer ein schlechtes Gewissen.
Aber nach der Toravorlesung, da geh’ ich fröhlich auf Toilette. Letzten Schabbes pfiff ich eine lustige Weise und wollte mir gerade die Hände waschen. Da hörte ich ein Kinderkichern. Sofort guckte ich streng – ich bin ja Lehrer – und wollte die Lärmquelle ausfindig machen.
Brennstäbe Ich sah eine Traube Kinder vor einem Kasten mit Briefschlitz. Mit ihren Fingern klaubten sie Blätter heraus. Es handelte sich um den Schejmes-Kasten. Schejmes sind heilige Bücher, Zeitschriften, Notizen, auf denen zum Beispiel der Name G’ttes geschrieben steht. Observante Juden werfen so etwas nicht einfach in den Müll, sondern deponieren es – ähnlich wie nukleare Brennstäbe – in einem verschließbaren Eimer, der dann, wenn er voll ist, auf einem jüdischen Friedhof vergraben wird.
Ich verscheuchte die Kinder und kniete mich selbst hin. Ich schaute nach links und nach rechts, dann stocherte ich ein bisschen mit meinem Zeigefinger in dem riesigen Stapel alter Bücher und Briefe.
Neugierig fingerte ich ein altes Gebetbuch aus dem Jahr 1948 heraus. Könnte ich auf Ebay stellen, dachte ich mir. »Alten wertvollen Siddur für 20 Euro« oder so. Das nächste Buch sah auch nicht schlecht aus. Ein alter Chumasch (1897 aus Russland). Geil! Mich packte das Indiana-Jones-Virus. Ich hörte, wie sie oben das Lied zur Einhebung der Tora sangen. Mir egal. Ich saß vor einer großen Sammlung alter Judaica. Wer sagt, dass Beten vertane Zeit wäre?
Ebay Gerade wollte ich die vielen Bücher in einen Plastiksack einpacken, da lief mir der nichtjüdische Hausmeister entgegen. Er guckte mich seltsam an. Ich murmelte etwas von Studium alter Bücher und fragte ihn, ob er noch eine Tüte hätte. Die beiden Tüten waren schnell voll. Ich dachte an Ferien mit der Familie. Können wir uns sonst nur jedes zweite Jahr leisten. Jetzt aber …!
Da hielt ich ein kleines Büchlein in der Hand. Es kam mir bekannt vor. Es war das Tischgebet-Büchlein, das bei meiner Hochzeit verteilt wurde! Und jetzt liegt es da, um begraben zu werden. So eine Unverschämtheit! Ich guckte, ob vielleicht noch der Name des früheren Besitzers drinstand. Leider nicht.
Ich schaute mir das Buch an und hatte plötzlich keine Lust mehr, Ebay-Powerseller zu werden. Ich warf alle Bücher wieder in den Schlund und ging nach oben um zu beten. Und die Moral von der Geschicht? Schreiben Sie keine Bücher, auch keine jüdischen. Die landen früher oder später im Abfall oder auf dem jüdischen Friedhof.