Kontext

Alles hängt zusammen

Gebet an Sukkot in Jerusalem, Herbst 2011 Foto: Flash 90

Die Tradition sieht vor, dass wir am Schabbat Chol Hamoed aus dem zweiten Buch Moses lesen. Derselbe Abschnitt ist dabei sowohl für den Schabbat Chol Hamoed Pessach als auch für den Schabbat Chol Hamoed Sukkot vorgesehen.

Die Frage, warum wir genau diese Verse lesen, könnte der letzte Teil unseres Abschnitts beantworten. Dort heißt es: »Auch Schawuot sollst du halten, das Fest der Erstlinge der Weizenernte und das Chag Ha’asif bei der Wendung des Jahres. Dreimal im Jahr sollen alle deine Männer vor dem Herrn, dem Ewigen, dem G’tt Israels erscheinen« (2. Buch Moses 34,22-23).

einbringen Eine direkte Erwähnung von Sukkot ist das nicht. Vielmehr heißt Sukkot hier Chag Ha’asif. Das könnte man mit »Fest des Einsammelns« oder »der Einsammlung« übersetzen; das verweist natürlich auf den landwirtschaftlichen Charakter des Festes mit dem Einbringen der Ernte. Aber der Begriff deutet auch auf etwas hin, was wir am ersten Tag von Sukkot gehört haben.

In der Haftara, der Prophetenlesung, für den ersten Tag von Sukkot heißt es nämlich: »Und es wird sein, dass jeder, der übrig ist von allen Völkern, die gegen Jeruschalajim gezogen, die werden alljährlich hinaufziehen, um sich vor dem König, dem Ewigen Zebaot, zu verbeugen und das Sukkotfest zu feiern« (Secharja 14,16). Hier werden die Völker »eingesammelt«, um in die Heilige Stadt zu pilgern.

Wenig später folgt in unserem Abschnitt das Pessachfest. Aber der Abschnitt erwähnt die beiden Feste lediglich, er behandelt sie nicht tiefgehend und umfassend.

Andere Verse, in denen Sukkot erwähnt wird, finden wir im 3. Buch Moses 23, 33-43 und im 5. Buch Moses 16,16. Hier erst erfahren wir, dass Sukkot das Fest ist, bei dem wir in der Sukka sitzen, die »Zeit unserer Freude« – Sman Simchatejnu, wie es in der Tora und im Siddur heißt. In unserem Abschnitt ist es noch das Chag Ha’asif.

zeitgleich Wenn wir die Stelle im 3. und 5. Buch Moses nicht beachten würden, wüssten wir also recht wenig über das Chag Ha’asif. Man sollte nicht verschweigen, dass der Raschbam, Rabbiner Schmuel ben Meir aus Troyes (1085–1158), in seinem Tora-Kommentar zur Erwähnung von Sukkot im 3. Buch Moses festhält, dass das Sukkotfest auf die Zeit des Chag Ha’asif gelegt wurde. Das heißt: Bei den beiden Festen handelt es sich nicht um ein und dasselbe, sondern sie finden nur zeitgleich statt.

Ähnliches gilt für das Pessachfest. Um mehr darüber zu erfahren, müssen wir die gesamte Tora im Blick haben und dürfen uns nicht nur auf diesen einen Ausschnitt verlassen. Wir müssen mit unserem Wissen und der Kenntnis der restlichen Tora den Kontext schaffen. Wollen wir noch mehr über das Sukkotfest erfahren, haben wir uns anzuschauen, was noch darüber gesagt wird.

bezug Als weiteres Beispiel kann man die Sukka nennen. Wir lesen darüber in dem Abschnitt im 3. Buch Moses, und mehr darüber erfahren wir beispielsweise im gleichnamigen Mischnatraktat. Dort lernen wir, wie eine Sukka gebaut wird. Dies wird wiederum im Talmud diskutiert, und bei weiterer Betrachtung der rabbinischen Texte lernen wir auch gleich mehr über Lulav und Etrog. Die Stelle im Buch des Propheten Sacharja hat ebenfalls einen Bezug zu Sukkot. In späteren Aufzeichnungen und Schriften werden wiederum Bräuche und Lehren über Sukkot beschrieben. So ist es mit vielen Details aus der Tora und dem jüdischen Leben.

Aus einer kleinen Basisinformation kann man also, wenn man den Kontext kennt, viel erfahren. Auf der anderen Seite bedeutet es, dass man nicht einfach ein Element herauslösen und nach Belieben umdeuten kann, denn alles steht in einem großen Zusammenhang.

Und so wirkt die Erwähnung von Sukkot als Chag Ha’asif nicht als Alibi für die Verwendung dieses Abschnitts am Schabbat Chol Hamoed Sukkot, sondern als eigene Lehre darüber, wie das Judentum sich selbst versteht: Es verbindet alle Lehren der Vergangenheit miteinander und fügt in der Gegenwart neue Ebenen hinzu – wie etwa der Raschbam –, um damit in die Zukunft zu gehen. Es gibt nichts, was in der Vergangenheit »eingefrostet« worden wäre. Wir sind also aufgefordert, nicht nur bestimmte Aspekte eines Festes im Blick zu haben – uns quasi die Rosinen herauszupicken –, sondern wir sollten allesamt zur Kenntnis nehmen.

Der Autor ist Mitglied der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen.

Zauberwürfel

Knobeln am Ruhetag?

Der beliebte Rubikʼs Cube ist 50 Jahre alt geworden – und hat sogar rabbinische Debatten ausgelöst

von Rabbiner Dovid Gernetz  09.01.2025

Geschichte

Das Mysterium des 9. Tewet

Im Monat nach Chanukka gab es ursprünglich mehr als nur einen Trauertag. Seine Herkunft ist bis heute ungeklärt

von Rabbiner Avraham Radbil  09.01.2025

Wajigasch

Nach Art der Jischmaeliten

Was Jizchaks Bruder mit dem Pessachlamm zu tun hat

von Gabriel Umarov  03.01.2025

Talmudisches

Reich sein

Was unsere Weisen über Geld, Egoismus und Verantwortung lehren

von Diana Kaplan  03.01.2025

Kabbala

Der Meister der Leiter

Wie Rabbiner Jehuda Aschlag die Stufen der jüdischen Mystik erklomm

von Vyacheslav Dobrovych  03.01.2025

Tradition

Jesus und die Beschneidung am achten Tag

Am 1. Januar wurde Jesus beschnitten – mit diesem Tag beginnt bis heute der »bürgerliche« Kalender

von Rabbiner Jehoschua Ahrens  01.01.2025 Aktualisiert

Chanukka

Sich ihres Lichtes bedienen

Atheisten sind schließlich auch nur Juden. Ein erleuchtender Essay von Alexander Estis über das Chanukka eines Säkularen

von Alexander Estis  31.12.2024

Brauch

Was die Halacha über den 1. Januar sagt

Warum man Nichtjuden getrost »Ein gutes neues Jahr« wünschen darf

von Rabbiner Dovid Gernetz  01.01.2025 Aktualisiert

Mikez

Schein und Sein

Josef lehrt seine Brüder, dass die Dinge nicht immer so sind, wie sie auf den Betrachter wirken

von Rabbiner Avraham Radbil  27.12.2024