Schon am Anfang des fünften und letzten Buches der Tora, Dewarim, wird das jüdische Volk zurechtgewiesen. In unserem aktuellen Wochenabschnitt setzt Mosche die Zurechtweisung fort. Dabei fällt auf: Anstelle eines Fließtextes, wie sonst üblich, ist unsere Parascha in zwei Spalten aufgeteilt.
Normalerweise handelt es sich in der Tora bei einer Aufspaltung des Textes um Lieder, wie bei dem bekannten Schirat Hajam, dem »Lied am Schilfmeer«. Das jüdische Volk hat es unmittelbar nach dem Auszug aus Ägypten gesungen.
Der Midrasch erklärt uns, dass es sich beim Wochenabschnitt Ha’asinu ebenfalls um ein Lied handelt. Doch es stellt sich die Frage, warum Mosche sein Volk ausgerechnet mit einem Lied zurechtweist.
Lieder Vergleicht man diese Parascha mit den anderen Liedern in der Tora, fällt auf, dass sie sich inhaltlich stark voneinander unterscheiden. Alle anderen Lieder handeln von der Macht G’ttes sowie der Liebe zwischen G’tt und dem jüdischen Volk. Doch im Ha’asinu-Lied geht es inhaltlich um etwas ganz anderes, nämlich um Strenge und Tadel. Metaphorisch gesprochen, handelt es von einem Vater, der seine unartigen Kinder zurechtweist, sie wegen ihrer Sünden und Fehler bestraft oder sie vor der Strafe warnt. Es scheint hierbei eigentlich nicht um Liebe zu gehen.
Um die Besonderheit dieses Wochenabschnitts besser zu verstehen, müssen wir den Hintergrund und die Vorgeschichte dieses Liedes untersuchen.
G’tt hat die Welt auf eine Art und Weise erschaffen, dass Seine Existenz zwar offensichtlich ist, man sie auf den ersten Blick aber nicht erkennen kann. Zunächst sieht man nur die Natur ohne einen Schöpfer. Die Natur hat eine feste Ordnung, und es ist auch ein klarer Ablauf ersichtlich. Es gibt die vier Jahreszeiten Sommer, Winter, Frühling und Herbst, es gibt Tag und Nacht sowie Ebbe und Flut. Bei allen diesen Vorgängen kann der Mensch G’tt nicht direkt als denjenigen erkennen, der die Welt erschaffen hat und ihren festen, immer wiederkehrenden Ablauf lenkt.
Es gibt jedoch Momente, in denen sich G’tt durchaus offenbart. Daran erkennen wir die schier unendliche Stärke, mit der G’tt in diese Welt hineinwirkt. Man sieht, wie sehr er sich für uns interessiert, denn selbst auf die kleinsten Details unseres Lebens nimmt er Einfluss.
Solche offenbarenden Momente erfüllen die Seele des Menschen mit einem Gefühl der Dankbarkeit. Eine Möglichkeit, dieses überwältigende Gefühl auszudrücken, ist es, ein Lied zu verfassen.
So taten es die Israeliten nach dem Auszug aus Ägypten. Nachdem sie sich mit der Hilfe G’ttes aus der Sklaverei und dem Leid in Ägypten befreit hatten und G’tt für sie das Meer geteilt hatte, spürten sie ein überwältigendes Gefühl von Dankbarkeit und Freude. Es war solch ein Moment, in dem G’tt Seine Macht und Liebe dem jüdischen Volk gegenüber offenbarte. Daher war es die natürliche Reaktion des Volkes, eine Lobeshymne auf G’tt zu singen.
Ein weiteres Beispiel für ein solches Lied finden wir bei König David in den Psalmen: »Mit dem Begleitspieler. Vom Knecht des Ewigen, von David, der zum Ewigen die Worte dieses Liedes redete am Tag, da der Ewige ihn gerettet aus der Hand aller seiner Feinde und aus der Hand Schauls« (Tehilim 18,1).
Dank Nachdem wir nun verstehen, dass Lieder eine Ausdrucksmöglichkeit für die Seele sind – vor allem für die Liebe und Dankbarkeit G’tt gegenüber –, können wir auch begreifen, warum unser Wochenabschnitt ein Lied ist. Und obwohl es sich um eine Zurechtweisung handelt und Mosche den Israeliten Strafen und Flüche androht, falls sie die Gebote nicht halten, geschieht dies alles aus Liebe. So wie es im Buch Mischlei des Königs Schlomo heißt: »Denn wen der Ewige liebt, den züchtigt er. Und wie dem Sohn der Vater meint Er’s gut« (3,12).
Da G’tt uns liebt, möchte er nicht, dass wir wegen unserer Sünden von der Welt verschwinden. Wir sollen uns besinnen und auf den richtigen Weg zu Ihm zurückkehren.
Mosche hat die Zurechtweisung in Form eines Liedes verfasst, um dem Volk zu zeigen, dass sie, die Zurechtweisung, immer aus Liebe geschieht. Wir sind für G’tt wie seine Kinder. Er beobachtet all unsere Taten und sorgt sich um uns wie ein liebevoller und aufmerksamer Vater, der seine Kinder lehren will, auf dem richtigen Lebensweg zu gehen.
In seiner Weisheit und Größe hat Mosche erkannt, dass sich hinter G’ttes Zurechtweisung Liebe verbirgt, und daraus ein Lied geschrieben. Selbst G’ttes Strenge hat in Mosche Gefühle von Dankbarkeit und Freude ausgelöst. Für alle nachkommenden Generationen ist dies im Ha’asinu-Lied verewigt.
Wir sollten uns also stets dessen bewusst sein, dass G’tt uns liebt und diese Liebe so innig ist, dass er uns manchmal auch Leid zufügen muss, so wie Eltern ihre Kinder hin und wieder tadeln müssen. Für die Kinder mag das nicht angenehm sein, aber es ist nötig, damit sie später bessere Menschen werden. Genauso verhält es sich mit G’tt und dem jüdischen Volk.
Doch können wir sicher sein: So wie ein Vater niemals seinen Sohn ins Feuer laufen lassen würde, so lässt auch G’tt uns nicht ins spirituelle Feuer laufen.
Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.
Paraschat Ha’asinu
Der Wochenabschnitt gibt zu einem großen Teil das »Lied Mosches« wieder. Er trägt es dem Volk vor und weist darauf hin, wie wichtig es ist. Das Lied erzählt von der Macht G’ttes
und wie sie sich in der Geschichte der Welt gezeigt hat. Es erinnert an das Gute, das der Ewige dem Volk Israel zuteilwerden ließ, aber auch an die Widerspenstigkeit der Israeliten und die Bestrafung dafür. G’tt spricht zu Mosche und fordert ihn auf, auf den Berg Nebo zu kommen. Von dort soll er auf das Land Israel schauen – betreten aber darf er es nicht.
5. Buch Mose 32, 1–52