Vor Kurzem ist Herr Jelinek gestorben. Ich weiß nicht, wie alt er geworden ist, ich weiß nur, dass er gerade noch rechtzeitig vor den Nazis in die Schweiz flüchten konnte. Seine Eltern haben hier, wie viele andere, mit Kleidern gehandelt.
Seelenruhe Als ich als kleiner Junge Herrn Jelinek kennenlernte, war er schon ein alter Mann. Er betete hinten rechts neben dem Eingang. Ich machte es mir zur Aufgabe, auswendig zu lernen, wie Jelinek seinen Tag in der Synagoge verbrachte: Zwischen 8.45 und 9.30 Uhr war er in die Gebete vertieft. Da durfte man ihn nicht stören. Auch nicht »Gut Schabbes« wünschen. Zwischen halb zehn und halb elf widmete er sich der Tageszeitung. Auch da durfte man ihn nicht stören. In aller Seelenruhe blätterte er eine Seite nach der anderen um und kümmerte sich keinen Deut um die Toralesung und um die Rede des Rabbiners. Doch pünktlich zum Mussaf-Gebet verschwand Herr Jelinek im Kiddusch-Raum, wo er sich einen Schnaps gönnte und von den Erdnüssen naschte. Natürlich wollte ich auch einmal so werden wie Herr Jelinek.
Wenn ich so nachdenke, fällt mir auf, dass ich mich noch an alle Synagogenbesucher erinnern kann. Irgendwie waren das noch Charakterköpfe, die – jeder auf seine Art – hervorstachen.
Zum Beispiel auch Herr Goldenring. Der war früher Pilot bei der EL AL und hat dann eine nichtjüdische Stewardess von der Swissair geheiratet. Er war der Einzige in der Synagoge, der richtig beten konnte und eine ordentliche Stimme hatte. Aber er stank entsetzlich. Jetzt fällt mir auch ein, dass er beim Kiddusch tüchtig trank. Das ist mir als Kind nie richtig bewusst gewesen.
Und Herr Bollag, unser Gemeindepräsident. Auch er hat eine schöne Frau aus dem anderen Lager geheiratet. Herr Bollag war stinkreich. Die Zahl 1 kannte er nicht: Er besaß drei Synagogenplätze, vier Häuser, drei Autos und wurde mindestens fünfmal zur Tora aufgerufen. Wenn ich kein Jelinek werde, dachte ich als Kind, dann halt ein Bollag.
Staatenlos Und dann war da noch David Tubiana, ein Russe. Eigentlich wollten er und seine Frau nach Israel ziehen. Das Klima aber, so hieß es, würde ihm nicht guttun. Herr Tubiana war so ein spezieller Fall. Klar war er jüdisch, keine Frage. Aber noch nicht beschnitten. Damals in Russland ging das noch nicht so leicht wie heute. Herr Tubiana war in unserer Gemeinde eine Art Staatenloser: Zum Minjan wurde er gezählt, zur Tora aufgerufen aber nicht. Ich hatte Mitleid mit ihm. War ich doch froh, die Beschneidung schon hinter mir zu haben.
Wenn ich mich heute umblicke, kenne ich häufig nicht die Namen der anderen Beter. Täusche ich mich, oder sind sie sich immer ähnlicher geworden? Mir fällt niemand ein, der jetzt aus der Masse hervorragt, weil er irgendeinen Spleen hat. Aber vielleicht sind alle Erwachsenen für Kinder Freaks. Wer weiß, vielleicht wird man in 20 Jahren auch von mir schwärmen: Herr Frenkel, das ist doch dieser ulkige Typ, der immer einen Schaufaden hinten raushängen lässt und wie ein aufziehbares Musikelefäntchen aussieht.