Am Vorabend von Jom Kippur ist es Brauch, dem eigentlichen Versöhnungstag eine außergewöhnliche Zeremonie voranzustellen: Drei fromme Vorbeter stehen gemeinsam mit zwei Torarollen vor der versammelten Gemeinde in der Synagoge und rezitieren einen sehr melodischen aramäischen Text, dessen erklärte Absicht es ist, alle Gelübde und Schwüre der Anwesenden zu annullieren.
Dieses zunächst vielleicht ungewöhnlich anmutende Gebet nennt sich Kol Nidre, auf Deutsch: »alle Gelübde«. Obwohl es in seiner bekannten Form erst aus dem Mittelalter stammt, liegen die Gründe für seine Entstehung schon in biblischer Zeit.
relevanz »Legt jemand vor dem Ewigen ein Gelübde (Neder) ab oder schwört einen Schwur, um dadurch seiner Seele ein Verbot aufzuerlegen, so darf er sein Wort nicht entheiligen. Ganz gemäß dem, was aus seinem Munde gekommen ist, soll er tun« (4. Buch Mose 30,3). Die Tora spricht hier über ein vielfältiges Spektrum an Gelübden (Nedarim). Von besonderer Relevanz sind dabei diejenigen Gelübde, die mit der Intention abgelegt werden, sich selbst etwas zu verbieten.
Die Tora spricht über ein vielfältiges Spektrum an Gelübden.
Zwar enthält die Tora bereits 365 Verbote, doch bietet sie in diesem Abschnitt mit dem Prinzip der prohibitiven Gelübde dem Einzelnen auch noch die Möglichkeit, sich individuell zusätzliche Verbote aufzuerlegen.
Was heute vielleicht zunächst befremdlich klingen mag, war in der Antike und auch noch in der späteren jüdischen Tradition gang und gäbe. »Nedarim sind ein Zaun um die Frömmigkeit«, heißt es etwa in der Mischna (Awot 3,13).
Verbote Die tannaitischen Gelehrten wollten damit ausdrücken, dass zusätzliche Verbote, die der Mensch in seinem Alltag individuell auf sich nimmt, dabei helfen können, etwa übermäßig genießerisches Verhalten einzuschränken. Eine der üblichsten Gelübdeformeln der talmudischen Zeit lautete daher: »Konam, ich schwöre, dass ich diese Speise nicht probieren werde« oder »dass ich keinen Genuss von jener Sache haben werde«.
So verbreitet waren Gelübde dieser Art in alter Zeit, dass der Talmud ihnen nicht nur einen ganzen Traktat widmet, sondern Diskussionen rund um dieses Thema sich auch in anderen Bereichen der Gemara finden lassen.
Die Universalität von Schwüren und Gelübden brachte aber auch vielfältige Probleme mit sich. Denn in der Tora heißt es weiter: »Legst du ein Gelübde ab vor dem Ewigen, deinem Gott, so versäume nicht, es zu erfüllen …, (da sonst) eine Sünde an dir sein wird … (Das Gelübde, das) deine Lippen hervorbringen, beobachte und tue …« (5. Buch Mose 23, 22–24).
Ein einmal aufgenommener Neder muss demnach strengstens erfüllt werden. In der antiken Welt, in der täglich, oft ganz nebenbei, sehr viele Gelübde abgelegt wurden, war aber die Gefahr groß, dass man nicht alle seine Gelübde tatsächlich beachtete.
DILEMMA Dieser Umstand war eines der großen halachischen Dilemmata der Zeit des Zweiten Jerusalemer Tempels, das unterschiedliche Lösungen hervorbrachte. Eine verbreitete Meinung spricht Rabbi Meir aus (Nedarim 9a, vgl. Kohelet 5,4): »Am besten ist es, wenn man gar keinen Neder auf sich nimmt.«
Einen zusätzlichen Umgang mit diesem Problem haben die rabbinischen Weisen mit dem Prinzip der »Hatarat Nedarim«, der »Auflösung von Nedarim«, gefunden (Mischna, Chagiga 1,8).
Zwar können Nedarim nicht einfach umgestoßen werden, doch können sie, so die Idee, rückwirkend für nichtig erklärt werden, wenn ein »Petach«, ein »Zugang«, ein Grund, gefunden wird, warum der Gelobende diesen Neder wohl nicht auf sich genommen hätte, wenn er vorab gewusst hätte, welche Schwierigkeiten die Erfüllung mit sich bringen würde.
Das Gebet leitet uns würdevoll in den großen Tag der Umkehr hinüber.
Eine solche »Hatarat Nedarim« erfolgte aber nur sehr bedacht. Vor allem konnte sie nicht vom Gelobenden selbst durchgeführt werden. Es bedurfte dafür eines Toragelehrten oder eines Beit Din, einer Versammlung von drei Richtern.
Reinigung Da Gelübde und somit auch der Verstoß dagegen noch in nach-talmudischer Zeit üblich blieben, der Prozess des Auflösens von Nedarim aber umständlich war, entstand im Volk der Wunsch, sich zumindest vor Jom Kippur, dem großen Versöhnungstag, auch von der Sünde der nicht-erfüllten Gelübde – oder der nicht absichtlich abgelegten Gelübde – umfassend zu reinigen. So entstand in früh-geonischer Zeit (vor dem 9. Jahrhundert n.d.Z.) auf Grundlage einer Stelle in der Gemara (Nedarim 23b) das Kol-Nidre-Gebet, dessen Zweck es ebenfalls ist, Gelübde für nichtig zu erklären.
Viele der geonischen Gelehrten jener Zeit waren allerdings gegen das Aufsagen von Kol Nidre (Raw Amram Gaon etwa nannte es einen »unsinnigen Brauch«), da es das einfache Volk dazu verführe, ihre Nedarim nicht ernst zu nehmen.
Spätere Halachisten haben sich intensiv mit der Frage befasst, ob nach dem jüdischen Religionsgesetz das Kol Nidre überhaupt die juristischen Bedingungen erfülle, um Gelübde annullieren zu können (von Rabbenu Tam, 12. Jahrhundert, bis Baal Halewuschim, 16. Jahrhundert).
Wie dem auch sei, das Kol Nidre ist auf jeden Fall ein ernstes und reuevolles Gebet um Vergebung für die alltäglichsten Sünden, die uns das ganze Jahr über begleiten, und entsprechend würdevoll leitet es uns in den großen Tag der Umkehr hinüber.
Der Autor ist Rabbiner und lebt in Berlin.