In diesen Tagen erzählen wir Juden am Sedertisch die Geschichte des Auszugs unserer Vorfahren aus Ägypten – den Exodus. Dieser dramatische Wendepunkt in der Geschichte unseres Volkes ist der Grundstein unserer Identität. Aber Moment, wer zählt eigentlich dazu? Wer sind »wir«?
Im 12. Kapitel des Buches Exodus steht: »Auch eine große gemischte Menge (Erev Rav) zog mit ihnen hinauf.« Das Wort »Erev« kann mehrere Bedeutungen haben. Viele kennen es als das Wort für Abend – eine Übergangszeit zwischen Licht und Dunkelheit. In der Tat ruft »Erev« die Konnotation des Dazwischen, der Vermischung hervor. Diese Verwendung finden wir im Buch Nehemia: »Wie sie nun das Gesetz hörten, da sonderten sie alle fremde Beimischung (Erev) aus Israel.« Dieser Vers bezieht sich auf die Hebräer, die Ammoniter und Moabiter geheiratet hatten – zwei Gruppen, von denen sie sich eigentlich distanzieren sollten. Nachdem sie diese Lehre wiederentdeckt hatten, trennten sich die Menschen von ihren moabitischen und ammonitischen Partnern.
Zurück in unseren ägyptischen Kontext: Sowohl Rabbiner als auch Linguisten haben über Jahrhunderte hinweg darüber spekuliert, wer genau diese »gemischte Menge« gewesen sein könnte, die mit den Israeliten in die Wüste zog. Einige vermuteten, es seien andere versklavte Völker und Söldner gewesen, die die Gelegenheit ergriffen, sich zusammen mit den Hebräern zu befreien. Andere argumentierten, dass es die erweiterten Familien der Hebräer waren – die ägyptischen Ehepartner einiger Hebräer und deren Kinder –, was an die berühmten Worte von Ruth der Moabiterin an ihre hebräische Schwiegermutter erinnert: »Wo du hingehst, da werde ich dir folgen.«
Ist es nicht wahrscheinlich, dass andere versklavte Völker ebenfalls in Freiheit leben wollten?
Eine andere Interpretation besagt, dass diejenigen, die mit den Hebräern Ägypten verließen, schlicht von der Überlegenheit des hebräischen Gottes überzeugt waren. Schließlich hatten die Plagen die Machtlosigkeit des ägyptischen Pharaos vor dem einen wahren Gott demonstriert. Vielleicht waren sie vom kollektiven Glauben der Hebräer an göttliche Erlösung überzeugt – ähnlich wie in dem berühmten Midrasch über Abraham und Sarah, die von Harran nach Kanaan umsiedelten und dabei »Konvertiten machten«.
Jedenfalls hatten die Plagen Ägypten verwaist und verödet zurückgelassen. Der Pharao hatte wenig Anteilnahme am Leiden seines eigenen Volkes gezeigt und sich hartnäckig geweigert, die Versklavten freizulassen, egal zu welchem Preis. Ist es so schwer vorstellbar, warum einige Ägypter ebenfalls das Land verlassen wollten?
»Erev Rav« sind immer die anderen …
Und doch wirft die rabbinische Tradition einen skeptischen Blick auf diejenigen, die das Erev Rav gewesen sein könnten, und trübt ihren Ruf seit Jahrhunderten.
So wird zum Beispiel im Midrasch Shemot Rabbah die Sünde des Goldenen Kalbes diesen Fremden unter den Hebräern zugeschrieben. Der Beweis, so wird argumentiert, liege in den Worten der Sünder: »Dies sind deine Götter, Israel, die dich aus dem Land Ägypten geführt haben« – und nicht »Dies sind unsere Götter, Israel«. Erev Rav wird hier als eine Gruppe von Fremden dargestellt, die sich aus opportunistischen Gründen den Hebräern anschlossen, aber nicht wirklich an ihrem Glauben festhielten.
Später wird die Kabbala, die mystische Tradition, diese Antipathie verstärken und Erev Rav zu einem Symbol des Verrats stilisieren. Zahlreiche mystische Quellen spekulieren über die Nachfahren dieser Fremden in jeder folgenden Generation, die jeweils als Verräter innerhalb des Volkes wiedergeboren werden.
Auch der Zionismus hatte Einfluss auf die Lesart des Begriffs. Für eine wichtige Figur des ultraorthodoxen Judentums, wie den Razon Ish, waren die Erev Rav die weniger gläubigen Juden in Israel, die durch ihre Nähe zur gottesfürchtigen Gemeinschaft die charedische Welt dazu verlocken würden, modernere Gewohnheiten anzunehmen. Im Gegensatz dazu sahen bestimmte religiös-zionistische Rabbiner im Erev Rav die Juden, die zögerten, ins Heilige Land zu migrieren, und so die Erlösung verzögerten.
Erev Rav, das beigemischte Fremde unter den Juden, das waren stets die anderen.
Was bedeutet dieses komplexe Erbe heute?
Wenn man sich den Midrasch so ansieht, ist es leicht zu verstehen, warum die Verantwortung für das Goldene Kalb auf den Fremden abgewälzt wurde. Auf einer tieferen Ebene deutet der Midrasch aber vielleicht darauf hin, dass die Sünde des Goldenen Kalbes durch das verursacht wurde, was noch von Ägypten in uns übrig war. Um es in psychologischen Worten zu sagen: Die Hebräer waren kollektiv von jener fremden Kultur geprägt, und die Anbetung eines Kalbes war vielleicht eine Art Pavlovsche Nachahmung der religiösen Kulte, die sie in ihrer Zeit der Knechtschaft in Ägypten gesehen und verinnerlicht hatten. Den Götzendienst abzuschütteln und sich innerlich von Ägypten zu befreien, war und ist eine der größten Herausforderungen Israels. Sie begann nicht erst in der Wüste, wie schon die gestohlenen Götzen unter Rachels Sattel bezeugen, und sie wird nicht im Gelobten Land enden, wie wir schmerzhaft in den folgenden Büchern der Bibel erfahren werden.
Was also ist es, das Erev Rav für Generationen von jüdischen Kommentatoren so bedrohlich erscheinen ließ? Die Antwort kann im biblischen Text selbst gefunden werden. Die Unterdrückung der Hebräer begann, als der Pharao selbst anfing, sich Sorgen zu machen, dass die Hebräer zu zahlreich und mächtig werden. Jene »demografische Gefahr« wollte der Herrscher eindämmen. Durch harte Arbeit sollte sich das Wachstum der hebräischen Bevölkerung verlangsamen. Erfolglos. Die Schriften bestätigen die Ängste des Pharaos: Die Israeliten waren auf wundersame Weise fruchtbar und vermehrten sich, bis »das Land mit ihnen erfüllt war« (2. Buch Mose 1, 7-9).
Plötzlich waren die Hebräer nicht mehr das anerkannte Volk Josefs ...
Die biblische Erzählung beschreibt hier einen Bruch in dem Verhältnis zwischen der ägyptischen Macht und der israelitischen Minderheit, die ja einst durch den Traumdeuter Josef unter den ägyptischen Eliten bekannt und durchaus beliebt war. Im Vers heißt es nun, dass »ein neuer König über Ägypten herrschte, der Josef nicht kannte«.
Aber wie konnte das sein? Wie konnte eine Dynastie so leicht den Helden vergessen, der sie durch seine prophezeienden Träume vor dem großen Hunger rettete?
Der Talmud erklärt, dass mit diesem Vers gemeint ist, dass ein neuer Geist die Eliten einnahm, einer, der die Hebräer nicht als das Volk Josefs ansah, dessen Genialität ihr Land gerettet hatte, sondern als eine äußere Kraft, die drohte, die Gesellschaft zu übernehmen und zu verderben. Der Talmud erklärt, dass mit diesem Vers gemeint ist, dass ein neuer Geist die Eliten einnahm, einer, der die Hebräer nicht als das Volk Josefs ansah, dessen Genialität ihr Land gerettet hatte, sondern als eine äußere Kraft, die drohte, die Gesellschaft zu übernehmen und zu verderben. Ganz so, wie Erev Rav charakterisiert wurde: eine Masse von Menschen ohne Individualität. Ein Volk, das auf Zahlen reduziert ist, eine bedrohliche Menge.
Gott prägt jeden Mensch anders
Anders als Pharao, der die Hebräer als undifferenzierte Masse betrachtete, sieht unser Gott die Menschheit radikal anders. So heißt es in der Mischna Sanhedrin: »Wenn jemand mehrere Münzen mit einem Siegel prägt, ähneln sie sich alle. Doch der höchste König der Könige, der Heilige, gepriesen sei Er, prägte alle Menschen mit dem Siegel Adams, des ersten Menschen, da sie alle seine Nachkommen sind und keiner von ihnen dem anderen gleicht.«
Der neue Pharao diktierte die Entmenschlichung der Hebräer. Spiegelverkehrt kann der gesamte Prozess des Exodus als eine Gegenbewegung dazu verstanden werden. Die Befreiung von der aufoktroyierten Identitätslosigkeit: Ein Jude zu sein, bedeutet, ein Mensch zu sein, mit kulturellen Einzigartigkeiten und geografischer Verwurzelung, auf die man sich nun zurückbesinnt.
In einem Midrasch erklärt Rav Mordechain Cohen, was Gott nach Jahren der Sklaverei endlich zum Eingreifen veranlasste: Er sah, dass die Kinder Israels Barmherzigkeit füreinander zeigten. Eine Person, die mit dem Backen der Ziegel fertig war, kam und half einem Freund, seine Ziegel zu formen. Gott sah dies und sagte: »Diese Menschen sind es wert, dass ich Erbarmen mit ihnen habe.« Angesichts des immer härter werdenden Herzens des Pharaos war es im Kontrast dazu die Barmherzigkeit der Hebräer, die der Schlüssel zu ihrer Erlösung war.
Bürgten jene »Fremden« nicht letztlich für den Erfolg der Rebellion?
Um auf die Etymologie des Wortes »Erev Rav« zurückkommen. Das Wort »Erev« hat dieselbe Wurzel wie »arev«, was sowohl angenehm als auch »verpflichten, bürgen« bedeutet. Und bürgten jene »Fremden« nicht letztlich für den Erfolg unseres Unternehmens? Scheiterte der Versuch Pharaos, die Israeliten vom Rest seines Volkes abzuspalten, sie zu erniedrigen und zu entmenschlichen, nicht auch daran, dass Fremde dieser Trennung widersprachen und sich uns anschlossen? Dass wir Menschen blieben und uns aneinander erbarmten?
Die rabbinische Tradition hat dem Erev Rav oft die Schuld für die Schwierigkeiten der Israeliten zugeschrieben. Dieses Pessach sollten wir versuchen, den Erev Rav anders zu sehen – nicht als Quelle des Elends, sondern als Modell für eine Zukunft, in der das jüdische Schicksal mit dem der anderen verflochten ist: Ihre Präsenz inspiriert uns, eine Zukunft aufzubauen, in der wir tief mit den anderen verbunden sind.
Diese Lektion hallt heute in unseren eigenen, diversen Kreisen wider, besonders nach einem so schwierigen Jahr, das von Fingerzeigen auf die anderen, die vermeintlichen »Verräter« geprägt war. Wir wurden kollektiv mit großen Schwierigkeiten konfrontiert, und nur gemeinsam werden wir durch diese Herausforderungen hindurchkommen.
Die Autorin ist Talmudlehrerin bei dem europaweiten jüdischen Lernprogramm Ze Kollel. Sie hat an der Hebräischen Universität Jerusalem, der Yeshivat Hadar sowie den Instituten Paideia und Pardes studiert.