Familienessen sind fast immer ein beeindruckendes Ereignis. Sie scheinen alle Möglichkeiten einer Küche demonstrieren zu wollen. So sind Vorratsschränke bis zum Bersten voll; sowohl Kühl- als auch Gefrierfach und natürlich die Tische scheinen den physikalischen Gesetzen trotzen zu wollen – wenn man bedenkt, wie viel Last sie maximal tragen können –, sobald eine »jiddische Mame« anfängt zu kochen.
Die Erzählungen von solchen kulinarischen Großereignissen werden generationenübergreifend und lebhaft in allen Einzelheiten weitergegeben. Ja, ein »jüdischer Tisch« ist zentrale Institution einer Familie, und die legendären Kochkünste von Mamas und Omas werden immer ein Thema bei unseren festlichen Mahlzeiten, genannt Se’udot, sein.
VORBILDER Doch woher kommt der Brauch, sich zum Essen zusammenzufinden? Wo finden wir Vorbilder im Verhalten des Einladens und des Austausches einer solchen festlichen Mahlzeit, einer Se’uda?
Technisch gesehen wird eine Mahlzeit an einen Zeitraum des Tages geknüpft, der dem Essen in Gesellschaft oder auch allein gewidmet ist. Mahlzeiten gemeinsam einzunehmen, ist ein kultureller Brauch, der über das Bedürfnis hinausgeht, Nahrung aufnehmen zu müssen. Die Mahlzeiten werden an die Tageszeit angepasst, an der sie gegessen werden, an die Gepflogenheiten der Gesellschaft, der die Gäste angehören, und manchmal auch an die Jahreszeit oder ein besonderes Ereignis.
In der jüdischen Tradition gibt es einige spezielle Se’udot, die man pflegt: Se’udat Brit Mila (Beschneidung), Se’udat Pidjon Ha-Ben (Auslösung des Erstgeborenen), Se’udat Barmiza, Se’udat Sijum Masechet (wenn man ein Traktat aus dem Talmud gelernt hat), Se’udat Nissuin (Hochzeit), Se’udat Schabbat und Se’udat Jom Tow, Se’udat Purim und andere.
RITUALE Gemeinsame Mahlzeiten sind Rituale, die zur Stabilität einer Familie beitragen. Sie gehören zu den festen Abläufen innerhalb der Familienrituale. Familien intensivieren ihre Beziehungen durch solche Rituale und schaffen so eine größere Intimität, die vertrauens- und solidaritätsstiftend ist.
Es erfolgt dabei ein Erfahrungsaustausch, der sich prägend auswirkt auf alle Familienmitglieder – besonders auf die Jüngeren. Die dadurch vermittelten Werte bleiben erhalten und führen zum Fortbestand von Familientraditionen.
In der jüdischen Tradition gibt es spezielle Se’udot zu Brit Mila, Barmizwa und Hochzeit.
Darüber hinaus kennen wir noch den Terminus der Hachnasat Orchim, wörtlich das »Willkommenheißen von Gästen«. Denn es ist eine religiöse Verpflichtung, Bedürftigen Gastfreundschaft zu bieten und Gäste in unsere Häuser und Gemeinschaften einzuladen. Die Tradition lehrt, dass das Zelt des biblischen Patriarchen Awraham immer für Gäste geöffnet war, und er wird oft als Beleg für diesen Wert zitiert.
Wir lesen dazu: »Als Awraham in der Hitze des Tages am Eingang seines Zelts bei den Terebinthen von Mamre saß, blickte er auf und sah Gott in Gestalt von drei Männern. Er rannte, verbeugte sich und begrüßte sie. Awraham bot an, ihre Füße zu waschen und ihnen einen Bissen Brot zu holen, und sie stimmten zu. Awraham eilte zu Saras Zelt, um Kuchen aus erlesenem Mehl zu bestellen, lief, um ein ausgewähltes Kalb zuzubereiten, stellte Quark und Milch und das Kalb vor sie und wartete unter dem Baum auf sie, während sie aßen« (1. Buch Mose 18, 1–14).
generation In einer chassidischen Geschichte wird die Bedeutung der Gastfreundschaft noch weiter verdeutlicht und ihre Wichtigkeit für das Zusammengehörigkeitsgefühl erläutert – sie ist auch eine Form des Austauschs und der Weitergabe des Stabes von Generation zu Generation – »Ledor vaDor«.
Ein beliebter Rabbiner, der in seinem Leben oft und gern befragt und schon fast belagert wurde, fühlte sich plötzlich nicht mehr in der Lage, allen Bedürfnissen seiner Betergemeinschaft nachkommen zu können. Er hatte den Eindruck, sich nur noch um die Belange anderer kümmern zu müssen und sich selbst aufzugeben, nicht mehr genügend Zeit für seine eigene Familie zu haben.
Auch sein Tora- und Talmudstudium litt unter dem übermäßigen öffentlichen Interesse an seiner Person und seinem Wissen. Also betete er zum Ewigen, dass Er ihm sein Charisma und das Interesse an seiner Person nehmen sollte. Er wollte mehr Zeit für sich haben und in Ruhe gelassen werden.
Laut Tora war das Zelt unseres Erzvaters Awraham stets für Gäste geöffnet.
Gesagt, getan: Das Gebet wurde erhört, und die Beter interessierten sich nicht mehr für den Rabbiner – er wurde weitestgehend ignoriert. Voller Freude widmete er sich nun seinem Studium und genoss es, mehr Zeit für sich gefunden zu haben.
USCHPISIN Doch es kamen die Hohen Feiertage und danach das Sukkotfest. Zu Sukkot sitzen wir in der Laubhütte und essen gemeinsam, tauschen uns aus und empfangen Gäste, die sogenannten Uschpisin. Die Sukka des Rabbiners aber blieb leer. Niemand schien Interesse zu haben, zu ihm zu kommen und sich mit ihm auszutauschen, ihn zu befragen.
Plötzlich erblickte der Rabbiner am Eingang der Sukka eine Lichtgestalt und erkannte Awraham Awinu, unseren Erzvater und einen der laut Tradition gerne geladenen »Uschpisin«-Gäste. Voller Freude begrüßte er den ehrenwerten Gast.
Doch Awraham wollte der Aufforderung nicht nachkommen und sich in der Sukka an den Tisch des Rabbiners setzen.
Als der verdutzte Rabbi ihn fragte, warum, entgegnete ihm Awraham, dass er nur dort Platz nehme, wo auch seine Kinder willkommen seien. Mit diesen Worten verließ er endgültig die Sukka des enttäuschten Rabbiners.
TORHEIT Der aber erkannte seine Torheit in dem Wunsch, allein bleiben zu wollen. Sofort betete er erneut zum Ewigen und bat, ihm doch das Charisma und das Interesse an seiner Person zurückzugeben. Der Ewige folgte der Bitte des Rabbiners. Und nach und nach kamen die Beter wieder zu ihm und »belästigten« ihn mit ihren Fragen.
Am nächsten Sukkotfest war die Sukka des Rabbiners wieder gefüllt wie eh und je. Und in einer Ecke der Sukka fielen seine Augen auf eine Lichtgestalt, über die er sich besonders freute: Es war Awraham Awinu, der ihm freundlich zuwinkte und erkennen ließ, wie schön es bei ihm nun wieder sei.
Auch an dieser Geschichte können wir erkennen, wie wichtig die Gemeinschaft im Judentum ist und warum sie in gewisser Weise am Esstisch kulminiert.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).