Eine nach den halachischen Vorschriften geschlossene jüdische Ehe endet, wie man der ersten Mischna im Traktat Kidduschin entnehmen kann, durch den Tod eines Ehepartners oder durch eine Scheidungsurkunde (hebräisch: Get), die der Ehemann der Frau überreicht.
Halacha Wenn ein Ehepartner unauffindbar ist, so kann ein gemeinsames Leben natürlich nicht mehr stattfinden. Halachisch gesehen besteht die Ehe jedoch weiter. Sollte einer der Eheleute erneut heiraten wollen, so ist dies nicht sofort möglich. Erst muss sie oder er den Beweis erbringen, dass die erste Ehe nicht mehr besteht. Ist ein Ehepartner verschollen, ergibt sich für die zweite Seite ein ernstes Problem. In der Praxis hat eine Ehefrau unter solchen Umständen wesentlich mehr Schwierigkeiten zu überwinden als ein Ehemann.
Das liegt daran, dass die Tora einem Mann erlaubt, mehrere Frauen zu heiraten; eine Frau darf aber nie mit zwei Männern verheiratet sein. Zwar wurde die Polygamie durch eine rabbinische Verordnung im Mittelalter verboten, aber unter bestimmten Bedingungen wird einem Mann erlaubt, eine zweite Frau zu ehelichen. Daher kann ein Beit Din (Rabbinatsgericht) einem Mann mit einer verschwundenen Ehefrau erlauben, sich eine neue Frau zu nehmen. Sollte die erste Ehefrau wieder auftauchen, ist nichts Schlimmes passiert.
Kinder Der umgekehrte Fall hingegen kann tragische Folgen haben: Sollte die Frau erneut heiraten und Kinder gebären, so hat sie, falls der erste Mann wieder auftaucht, (unbeabsichtigt) Ehebruch begangen. Die Kinder aus der zweiten Verbindung bekommen einen Makel, der an ihnen folgenreich haften bleibt (hebräisch: Mamserut).
Eine Frau, die nach dem Gesetz nicht erneut heiraten kann, wird »Aguna« genannt. Sie bleibt an einen Mann gefesselt, mit dem sie nicht mehr zusammenlebt. Die besondere Lage einer Aguna wird im Talmud-Traktat Jebamot besprochen. Die Ergebnisse der religionsgesetzlichen Erörterungen sind sowohl im Kodex von Maimonides (Hilchot Geruschin 12–13) als auch im Schulchan Aruch (Even HaEzer 17) zusammengefasst worden.
In der Responsenliteratur werden erstaunlich viele Aguna-Fälle diskutiert. So hat Rabbi Yizhak Elchanan Sektor (1817–1896) aus Kovno mehr als 150 Responsa zu diesem Themenkomplex veröffentlicht.
Fast alle Halachisten, die sich mit solchen Fällen befasst haben, neigten dazu, erleichternd zu entscheiden, das heißt, der betreffenden Frau eine neue Ehe zu erlauben. Vom früheren sefardischen Oberrabbiner Ovadia Josef (1920–2013) und seinem Beit Din ist bekannt, dass sie nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973 fast 1000 Agunot aus ihrem gefesselten Zustand befreiten.
In den halachischen Gutachten geht es stets darum, die Umstände des jeweiligen Falls zu untersuchen und dann zu prüfen, ob die halachischen Kriterien es erlauben, den Tod des Mannes für sicher zu halten. Forscher der umfangreichen Aguna-Literatur haben festgestellt, dass leider nicht in jedem Fall eine positive Lösung gefunden werden konnte.
Richter Eine große Verantwortung lastet auf den rabbinischen Richtern. Die Gefahr besteht, dass sie Urteile fällen, die sich am Ende als falsch erweisen (wenn der Mann unerwarteterweise wieder auftaucht). Man denke an die wirren Verhältnisse in den Vernichtungslagern, an unüberschaubare Kriegsereignisse und an die Menschen, die am 11. September 2001 in den Twin Towers in New York waren und vermutlich umgekommen sind.
Sehr bewegend sind auch die Schicksale einer anderen Sorte von Agunot. In diesen Fällen sind die Männer nicht verschollen, sondern sie wollen ihren Frauen keinen Get geben, obwohl sie vom Beit Din dazu aufgefordert wurden. In Israel werden solche widerspenstigen Ehemänner unter Druck gesetzt, im Extremfall landen sie sogar im Gefängnis.
Vielen Berichten kann man entnehmen, wie unermesslich das Leid einer Aguna ist. Wer ihr helfen kann, aus ihrer misslichen Lage herauszukommen, vollbringt eine g’ttgefällige Tat.