Schemini

Äußerst gespalten

Es käut zwar wieder, aber seine Hufe sind nicht gespalten – aus diesem Grund verbietet es die Tora, das Fleisch des Kamels zu verzehren. Foto: Getty Images/iStockphoto

Der Wochenabschnitt Schemini schildert zunächst die Amtseinführung Aharons, seiner Söhne Nadav und Avihu sowie ihr erstes Opfer. Weil sie eigenmächtig »fremdes Feuer« vor den Altar bringen, gehen Nadav und Avihu zugrunde.

Neben diesen Geschehnissen enthält die Parascha einige Verse, die uns über den Koscher-Status von vier verschiedenen Tieren aufklären: den des Kamels, des Kaninchens, des Hasen und des Schweins.

In der Tora steht: »Alles, was behuft ist und gespaltene Klauen hat (und) wiederkäuend ist unter den Vierfüßigen, das dürft ihr essen. Doch das dürft ihr nicht essen von den Wiederkäuenden und Behuften: das Kamel, denn es käut wieder, aber ist nicht hufgespalten – unrein ist es euch; und das Kaninchen, denn es käut wieder, ist aber nicht hufgespalten – unrein ist es euch; und den Hasen, denn wiederkäuend ist er, aber nicht hufgespalten – unrein ist er euch; und das Schwein, denn behuft ist es und hufgespalten, aber es käut nicht wieder – unrein ist es euch. Von ihrem Fleisch dürft ihr nicht essen und ihr Aas nicht berühren – unrein seien sie euch« (3. Buch Mose 11, 3–8).

Feststehende Regeln der Tora über den Verzehr ungeeigneter Tiere

Auf den ersten Blick liefern uns diese kurzen Verse lediglich feststehende Regeln der Tora über den Verzehr ungeeigneter Tiere. Doch tatsächlich verbirgt sich dahinter weit mehr.

Der Midrasch Wajikra Raba, eine Auslegung des 3. Buches Mose (Wajikra), weist auf eine Parallele zwischen den vier Tieren und den vier Exilen des jüdischen Volkes hin: Kamel – das babylonische Exil; Kaninchen – das persische Exil; Hase – das griechische Exil; Schwein – das immer noch andauernde römische Exil.

Doch was ist der Hintergrund dieser vom Midrasch angeführten Parallelen? Der Talmud gibt uns ein weiteres Indiz. Er hebt den Unterschied zwischen den Generationen der Zerstörung des Ersten Tempels und der Generation der Zerstörung des Zweiten Tempels hervor: »Der Bauch der Früheren war besser als die Klauen der Späteren« (Joma 9b).

Der Erste Tempel wurde wegen der drei Todsünden Mord, Ehebruch und Götzenanbetung zerstört, der Zweite Tempel aufgrund von unbegründetem Hass.

Während von Anfang an feststand, dass das Exil des jüdischen Volkes nach der Zerstörung des Ersten Tempels 70 Jahre dauern würde, dauert das Exil nach der Zerstörung des Zweiten Tempels bis heute an.

Unsere Weisen erklären, dass dies an der unterschiedlichen Natur dieser beiden Problematiken liegt: Die drei Todsünden sind zwar gravierend, jedoch leicht zu identifizieren und sehr klar in ihrer äußeren Form und Handlung. Unbegründeter Hass hingegen gelangt nicht immer nach außen. Häufig trägt ihn ein Mensch in sich, ohne sich selbst darüber im Klaren zu sein.

Kehren wir zurück zu der Parallele zwischen den vier Tieren und den vier Exilen. Die ersten drei Tiere sind Wiederkäuer, aber sie haben keine gespaltenen Hufe. Sie korrespondieren mit den Generationen bis zur Zerstörung des Ersten Tempels (Babylon, Persien, Griechenland). Ihr Defizit ist also leicht zu erkennen: Hufe – drei Todsünden.

Das vierte Tier jedoch, das Schwein, will mit seinen äußerlichen Attributen (gespaltene Hufe) überzeugen, doch innerlich ist es das genaue Gegenteil von dem, was es vorgibt zu sein.

Das Schwein korrespondiert mit der Generation nach der Zerstörung des Zweiten Tempels und spiegelt so auch treffend Rom wider, die Zerstörer unseres Zweiten Tempels und die »Kernideologen« unseres fortwährenden Exils. Somit sind die Mägen der ersten drei Exile der »Bauch der Früheren« und die Hufe des letzten Exils »die Klauen der Späteren«.

Die fanatische Betonung des Körperlichen, des Krieges und des Genusses ist ein Fundament, das Rom zwar etabliert hat, das jedoch laut der Überlieferung unserer Weisen der Vorvater dieses Weltbildes, Esau, schon lange zuvor propagiert hat.

Noch nie war die Fokussierung auf Äußerlichkeiten so stark wie heute

Wir können aus den Versen über unkoschere Tiere für unsere heutige Zeit eine wichtige Lehre ziehen: Noch nie war die Fokussierung auf Äußerlichkeiten so stark wie heute. Und damit war noch nie die Gefahr so groß, von der oberflächlichen Beschaffenheit der Realität geblendet und verblendet zu werden.

Nicht umsonst warnt uns die Mischna davor, dass in der Zeit unmittelbar bevor der Maschiach kommt, »die Wahrheit verschwinden wird« (Sota 49b).

Möge uns dies stets bewusst sein, und mögen wir dementsprechend immer das Bestreben in uns erhalten, über die flüchtige Äußerlichkeit der Dinge hinwegzusehen. Lassen wir uns nicht hinters Licht führen, damit das letzte Exil bald beendet wird.

Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.

inhalt
Der Wochenabschnitt Schemini schildert zunächst die Amtseinführung Aharons und seiner Söhne Nadav und Avihu als Kohanim (Priester) sowie ihr erstes Opfer. Dann folgt die Vorschrift, dass die Priester, die den Dienst verrichten, weder Wein noch andere berauschende Getränke trinken dürfen. Der Abschnitt listet auf, welche Tiere koscher sind und welche nicht, und er erklärt, wie mit der Verunreinigung durch tote Tiere umzugehen ist.
3. Buch Mose 9,1 – 11,47

Berlin

Von Generation zu Generation

Am Donnerstag fand in Berlin die feierliche Ordination von zwei Rabbinerinnen sowie sechs Kantorinnen und Kantoren statt. Doch auch der monatelange Streit um die liberale Rabbinatsausbildung in Deutschland lag in der Luft

von Ralf Balke  06.09.2024

Potsdam/Berlin

Neue Stiftung für Ausbildung von Rabbinern nimmt Arbeit auf

Zentralratspräsident Schuster: »Die neue Ausbildung öffnet wichtige internationale Horizonte und Netzwerke innerhalb des liberalen und konservativen Judentums«

von Yvonne Jennerjahn  06.09.2024 Aktualisiert

Schoftim

Das Wort braucht auch die Tat

Warum Gerechtigkeit mehr als nur leeres Gerede sein sollte

von Rabbiner Alexander Nachama  06.09.2024

Talmudisches

Bedürfnisse der Bedürftigen

Was unsere Weisen über zinslose Darlehen lehrten

von Yizhak Ahren  06.09.2024

Sanhedrin

Höher als der König

Einst entschieden 71 Gelehrte über die wichtigsten Rechtsfragen des Judentums. Jeder Versuch, dieses oberste Gericht wiederaufzubauen, führte zu heftigem Streit – und scheiterte

von Rabbiner Dovid Gernetz  06.09.2024

München

Rabbiner offerieren »Gemeindepaket«

Mit besonders auf kleine Gemeinden abgestimmten Dienstleistungen will die Europäische Rabbinerkonferenz halachische Standards aufrechterhalten

 05.09.2024

Re’eh

Der Weg ist das Ziel

Warum man sich nie unvorbereitet auf die Suche nach Verborgenem machen sollte

von Vyacheslav Dobrovych  30.08.2024

Talmudisches

Essen übrig lassen

Was unsere Weisen über den Umgang mit Wirten lehrten

von Rabbiner Avraham Radbil  30.08.2024

Revolutionäre Rabbiner

»Prüfe die Dinge, und du wirst sie erkennen«

Die Schriften von Rabbiner Menachem Meiri zeigen, dass Juden bereits im Mittelalter das Verhältnis zu ihren nichtjüdischen Nachbarn neu definierten

von Sophie Bigot Goldblum  28.08.2024