Dewarim

Ämter verpflichten

Mosches Antlitz auf dem Berg Nebo im heutigen Jordanien: Von hier aus konnte er auf das verheißene Land schauen – doch betreten durfte er es nicht. Foto: Getty Images/iStockphoto

Das 5. Buch Mose, Sefer Dewarim, ist das letzte Buch der Tora und beginnt mit einem Rückblick Mosches auf die Wüstenwanderung, die jetzt, nach fast 40 Jahren, vor dem Abschluss steht. Mosche wiederholt viele Passagen der vorherigen Bücher, weshalb Dewarim auch Mischne Tora, Wiederholung der Tora, genannt wird.

Unser Wochenabschnitt beginnt mit: »Dies sind die Worte, die Mosche zu ganz Israel (…) gesprochen hat« (5. Buch Mose 1,1). Es sind also nicht G’ttes Worte, die Mosche dem Volk mitteilt, sondern seine eigenen.

Denkmal Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) erklärt in seinem Kommentar: »Wie die letzten Kapitel des vierten Buches dasjenige berichten, was G’tt in Veranlassung der nun bevorstehenden Besitznahme des Landes und in Beziehung auf dieselbe durch Moses verordnete und anordnete, ist in dieses fünfte Buch das niedergelegt, was nun noch Moses an das Volk, aus dessen Mitte er nun zu scheiden im Begriffe war und das ohne seine Führung der Lösung seiner Aufgabe in dem im Besitz zu nehmenden Lande entgegenging, gesprochen hat.« Wie Rabbiner Hirsch feststellt, bleibt von Mosche »kein Denkmal, keine Ehrensäule, kein irdisches Erinnerungszeichen«, sondern nur das Echo seiner Worte. Das ist erstaunlich.

Am brennenden Dornbusch meinte Mosche noch, dass er kein guter Redner sei und deshalb die Aufgabe der Führung des jüdischen Volkes nicht übernehmen könne. G’tt sagte ihm, dass Aharon für ihn sprechen könne (2. Buch Mose 4, 10–16). Und nun steht Mosche vor dem Volk und spricht klar und deutlich – nicht die Worte G’ttes, sondern sogar seine eigenen!

Der Midrasch (Dewarim Rabba 1,6) verbindet das »Ich bin kein Mann von Worten« (hebräisch: Lo Isch Dewarim) im 2. Buch Mose 4,10 mit: »Dies sind die Worte« (hebräisch: Ele Dewarim) unseres ersten Verses.

»Rabbi Tanchuma sagte: Womit ist diese Sache zu vergleichen? Mit einem Menschen, der Purpur zu verkaufen hatte und ausrief: ›Hier ist Purpur zu haben.‹ Der König erblickte ihn, hörte seine Stimme, rief ihn und fragte ihn: ›Was hast du zu verkaufen?‹ – ›Nichts!‹, antwortete er. ›Ich habe dich doch aber‹, fuhr der König fort, ›Purpur ausbieten hören, und du sagst: nichts?‹ – ›Mein Herr!‹, sprach der Verkäufer, ›es ist wahr, ich habe Purpur, aber bei dir ist er doch nichts.‹ Ebenso sprach auch Mosche vor G’tt, der den Mund und die Rede erschaffen: ›Ich bin kein Mann von Worten (Das heißt: Bei Dir gelte ich nicht als ein Mann von Worten), aber bei den Israeliten heißt es von ihm: Dies sind die Reden‹.«
Mosche war also durchaus ein guter Rhetoriker, aber vor G’tt und im Vergleich mit Ihm war es so, als könnte Mosche nicht sprechen.

KOMPASS Rhetorik allein macht allerdings noch keine gute Führungspersönlichkeit aus. Wichtiger als jede intellektuelle Begabung ist ein moralischer und geistiger Kompass.

Für Mosche waren Recht und Gerechtigkeit von jeher ganz fundamental. Es ist daher sicherlich kein Zufall, dass er so kurz vor dem Einzug ins Land Israel das Volk mahnt, die richtigen Personen als Stammeshäupter und Richter einzusetzen: »In jener Zeit nahm ich eure Richter in die Pflicht und sagte: ›Hört zwischen euren Brüdern und bringt das Recht durch euer Urteil zur Geltung! (…) Erkennt kein Angesicht im Gericht (…), denn das Gericht ist G’ttes‹« (5. Buch Mose 1, 16–17).

Es geht also um mehr als nur um gutes juristisches Wissen oder Unbestechlichkeit, wie der Talmud erklärt: »Die Richter müssen wissen, wen sie richten, vor wem sie richten und wer sie dereinst zur Rechenschaft ziehen wird (…), denn ihr richtet nicht vor Menschen, sondern vor G’tt« (Sanhedrin 6b).

Daher darf keiner Recht sprechen, der nicht auch die Tora gut kennt und nach ihr lebt: »Dem großen Gericht oder dem Exilarch ist es untersagt, einen Richter zum Richten des Volkes einzusetzen, der die Weisheit der Tora und die Erläuterung ihrer geraden und gerechten Gesetze nicht gelernt hat. Selbst wenn er einige edle Eigenschaften aufweist, ist es nicht richtig, ihn zum Richter zu ernennen, nachdem er in der Weisheit der Tora nicht gelehrt und bewandert ist. (…) Unsere Weisen sagten: ›Du könntest sagen: Dieser Mann ist gut aussehend oder stark oder wohlhabend, oder er kennt alle Sprachen – ich werde ihn als Richter einsetzen.‹ Daher wurde gesagt: ›Erkennt kein Angesicht im Gericht‹« (Sefer HaChinuch, Mizwa 414).

Ein Richter war nicht nur ein Jurist in unserem heutigen Verständnis, sondern auch moralisches Leitbild und eine spirituelle Führungspersönlichkeit.

RABBINER Aus den Richtern der damaligen Zeit wurden später die Rabbiner und Gemeindeleiter. Daher ergänzt Sefer HaChinuch: »Es scheint, dass zu diesem Gebot auch gehört, dass jemand, der von der Gemeinde gewählt wurde, Beamte für irgendeinen Zweck zu ernennen, seine ganze Aufmerksamkeit und sein ganzes Wissen darauf richten muss, solche zu ernennen, die für die Positionen, die die Gemeinde braucht, geeignet sind. Er soll niemanden ernennen, der ungeeignet ist.«

Ein Richter oder Gemeindevorstand kann, wie Rabbiner Jakob Teichman (1915–2001) erläutert, nicht einfach nur gebildet oder begabt sein. »Ohne das Rüstzeug der Tora und der Entschlossenheit, seine Gemeinde nach deren Weisung zu führen und zu richten, war er, samt all seiner sonstigen Bildung und Talente, unbefugt für das hohe Amt.«

Denn ein Gemeindeamt bedeutet nicht, nach eigenen Vorstellungen zu führen oder aus seiner Position einen Nutzen zu ziehen, sondern heißt, sich an den Gesetzen von Recht und Gerechtigkeit der Tora zu orientieren. Dazu gehört eine selbstlose Verpflichtung der Gemeinde gegenüber beziehungsweise »eine Dienstpflicht im Dienste der Gesamtheit«, wie es Rabbiner Samson Raphael Hirsch nennt (Kommentar zu Dewarim 1,16).

Rabbiner Hirsch führt weiter aus, dass Gemeindevorstände ihre Befugnisse nicht missbrauchen dürfen, sondern fair die Interessen der Menschen vertreten und die Verwirklichung des Rechts anstreben sollen. Ebenso müssen sie die Mühsal des Amtes akzeptieren und mit Geduld auch Kritik ertragen können. Denn es geht schließlich immer um Menschen.

Der Autor ist Mitteleuropa-Direktor des Center for Jewish-Christian Understanding and Cooperation sowie Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

inhalt
Kurz vor der Überquerung des Jordans blickt Mosche auf die Wanderung durch die Wüste zurück. Er erinnert an die schlechten Nachrichten der Spione und sagt, dass Jehoschua an seine Stelle treten wird. Dann erinnert Mosche an die 40-jährige Wanderung und die Befreiung der ersten Generation aus Ägypten. Seiner Meinung nach gehört das, was die Eltern erlebt haben, zum Schicksal ihrer Kinder. Wozu sich die Vorfahren am Sinai verpflichtet haben, ist auch für die Nachkommen bindend. Es wird bestimmt, mit welchen Völkern sich die Israeliten auseinandersetzen dürfen und mit welchen nicht. Mosches Bitte, das Land Israel doch noch betreten zu dürfen, lehnt G’tt ab.
5. Buch Mose 1,1 – 3,22

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