Tradition

Acht Lichter und viele Mizwot

Die brennenden Chanukkakerzen schaffen eine magische Atmosphäre. Foto: Getty Images/iStockphoto

Chanukka gehört zweifelsohne zu den bekanntesten und fröhlichsten jüdischen Festen. Die Chanukkakerzen zu zünden, ist eine relativ einfache Mizwa, und viele, sogar nicht religiöse Juden befolgen sie, weil sie die magische Atmosphäre der brennenden Chanukkakerzen vor der versammelten Familie genießen.

Die allermeisten von uns platzieren heute ihre Chanukkia am Fenster und zünden am ersten Tag eine Kerze, am zweiten zwei und so weiter, wobei sie die Kerzen von rechts nach links aufstellen und diese von links nach rechts zünden. Doch in Wirklichkeit unterliegen alle diese Bräuche großen Debatten zwischen Rabbinern verschiedener Generationen, und die gängige Praxis von heute sah früher vielerorts ganz anders aus, als wir sie heute kennen.

DEBATTE Die allererste und wohl berühmteste Debatte, was die Chanukkakerzen angeht, ereignete sich vor ungefähr 2000 Jahren zwischen Beit Schammai und Beit Hillel. Es ging dabei darum, ob man mit acht Kerzen am ersten Tag anfängt und jeden Tag jeweils eine Kerze wegnimmt, oder umgekehrt: Man fängt am ersten Tag mit einer Kerze an und fügt jeden Tag eine weitere Kerze hinzu.

Die einfache Erklärung, warum Beit Schammai die Meinung vertritt, dass die Lichter in absteigender Reihenfolge angezündet werden, ist entweder, um der Anzahl der verbleibenden Tage oder dem Modell der Mussafopfer an Sukkot zu entsprechen, als jeden Tag ein Stier weniger im Tempel geopfert wurde.

Beit Hillel hingegen war der Meinung, dass die Lichter in aufsteigender Reihenfolge angezündet werden, entweder um der Anzahl des gefeierten Tages zu entsprechen oder um der Regel zu folgen, dass man in Sachen Heiligkeit immer aufsteigt (ma’alin baKodesch). Es gibt eine Menge Tora-Literatur, die diese Talmudpassage, sowohl aus der Perspektive des jüdischen Gesetzes als auch aus der Perspektive der jüdischen Philosophie diskutiert.

In einer weiteren Debatte geht darum, wie viele Kerzen beziehungsweise Chanukkiot in einer Familie gezündet werden sollen. Die Baraita im Traktat Schabbat 21b schreibt, dass die grundlegende Verpflichtung von Chanukka darin besteht, dass ein Mann und seine Familie an jedem Abend der acht Chanukkatage eine Kerze anzünden.

Seit Generationen wird darüber debattiert, ob man die Kerzen von links oder von rechts anzündet.

Diejenigen, die dieser Verpflichtung mit mehr Schönheit (Mehadrin) nachkommen wollen, zünden an jedem Abend der acht Chanukkatage eine Kerze für jede anwesende Person an.

SCHÖNHEIT Wer seiner Verpflichtung mit größtmöglicher Schönheit (Mehadrin min Hamehadrin) nachkommen will, zündet – wie bereits oben erwähnt – jeden Tag eine unterschiedliche Anzahl von Kerzen an, entsprechend der Meinung von Hillel oder Schammai, also aufsteigende oder fallende Reihenfolge.

Es gibt zwei unterschiedliche Auffassungen, wie man Mehadrin min Hamehadrin erfüllt:

  1. Nach Maimonides zündet jeder Anwesende am ersten Abend eine Kerze an, am zweiten Abend zwei Kerzen und so weiter. Die Regel von Beit Hillel oder Beit Schammai gilt somit für jede anwesende Person.
  2. Laut den Tossafot ist für alle Anwesenden nur eine Kerzenreihe zu erfüllen, das heißt, eine Kerze am ersten Abend, zwei Kerzen am zweiten Abend und so weiter.

Es ist bemerkenswert, dass die meisten Aschkenasim der Meinung von Maimonides folgen (der eigentlich ein sefardischer Rabbiner war), während, wie bereits von Maimonides selbst bemerkt, der sefardische Brauch darin besteht, nur eine Reihe von Kerzen für den gesamten Haushalt anzuzünden und damit der Meinung der Tossafot (die aus dem aschkenasischen Raum kommen) zu folgen.

PLATZIERUNG Die nächste Frage ist, wo der Chanukkaleuchter platziert werden sollte. In Schabbat 21b lesen wir: »Die Anforderung besteht darin, das Chanukkalicht von außen an die Türöffnung des eigenen Hauses zu stellen. Wenn man in einem oberen Stockwerk wohnt, soll der Leuchter in ein Fenster gestellt werden, das an den öffentlichen Bereich angrenzt, und bei Gefahr soll man ihn auf seinen Tisch stellen, und das ist ausreichend.«

Schabbat 22a fährt im Namen Rabbas fort: »Es ist eine Verpflichtung, die Chanukkakerzen eine Handbreit vom Eingang entfernt aufzustellen. Und wo genau? Rav Aha, der Sohn von Rava, sagt, auf der rechten Seite. Rav Samuel von Difti sagt, auf der linken Seite.«

Der Talmud beschließt: »Auf der linken Seite, sodass die Chanukkakerze auf der linken Seite ist, während die Mesusa auf der rechten Seite ist«.

Im Mittelalter wurde das Ritual als Reaktion auf Intoleranz von Christen nach drinnen verlegt.

Diese Schlussfolgerung wurde von Rav Hananel ad locum und von allen Rabbinern angenommen. Die Rabbiner stellten fest, dass der einzige Grund, die Chanukkakerzen auf der linken Seite des Eingangs zu platzieren, die Anwesenheit der Mesusa auf der rechten Seite ist. Wenn es aus gutem Grund keine Mesusa auf der rechten Seite der Tür gab, wurden die Chanukkakerzen auf der rechten Seite platziert, weil die rechte Seite immer bevorzugt wird.

REAKTION Als Reaktion auf die intolerante christliche Gesellschaft ihrer Zeit gaben die rabbinischen Autoren des Mittelalters das talmudische Ritual des Anzündens der Chanukkakerzen außerhalb des Hauses jedoch auf. Man verlegte es nach innen.

Die Rabbiner des Mittelalters schrieben ausdrücklich, dass alle Regeln und Verpflichtungen, die während der talmudischen Zeit über die Platzierung der Menora außerhalb ihrer Häuser galten, nun auf die Platzierung der Menora innerhalb von Häusern anwendbar sind: dies entweder an der Vordertür, an der Hintertür oder am Eingang des Wohnzimmers, das »Beit haChoref« genannt wurde, also der Winterraum, der einzige beheizte Raum des Hauses, in dem sich das Leben der Familie abspielte.

Außerdem hängten Juden im Mittelalter aus Sicherheitsgründen die Mesusa nicht mehr am Eingang ihres Hauses auf. Daher berichteten viele, dass Rabbi Ephraïm von Regensburg anordnete, dass die Chanukkakerzen rechts vom Eingang aufgestellt werden sollten, wenn es keine Mesusa am Haupteingang des Hauses gibt.

Nun stellte sich die Frage nach der Reihenfolge des Anzündens der Chanukkakerzen. Zünden wir von links nach rechts, oder umgekehrt? Diese Frage wurde erst im 13. Jahrhundert aufgeworfen, als berichtet wurde, dass der Maharam von Rothenburg beim Anzünden der Chanukkakerzen auf der linken Seite begann und sich dann nach rechts drehte, gemäß dem talmudischen Spruch: »Alle Drehungen, die du machst, sollen nach rechts sein.«

So begann der Maharam das Anzünden der Kerzen immer mit der linken Kerze. Sie anzuzünden, sah er als die grundlegende Erfüllung der Mizwa an.

Von dieser Zeit an wurde die Reihenfolge des Anzündens der Chanukkakerzen ein wiederkehrendes Thema unter den Gelehrten, und jeder von ihnen nahm eine bestimmte Position zu diesem Thema ein. Auch die Frage, ob die Chanukkakerzen bei fehlender Mesusa links oder rechts neben dem Eingang stehen sollten, wurde weiter diskutiert.

HAUPTSTRÄNGE Aus zwei Antworten des 14. Jahrhunderts kennen wir noch zwei weitere Sitten: den österreichischen Brauch und den Brauch Mahariks, was aller Wahrscheinlichkeit nach wohl der alte französische Brauch war. Aus den drei Hauptsträngen des aschkenasischen Judentums, dem im Rheinland, dem französischen und dem österreichischen (und osteuropäischen), entwickelten sich eigene Traditionen. Offenbar ähnelte die spanische Tradition der des Rheinlands.

Die französische Tradition, die im 12. und 13. Jahrhundert sehr einflussreich war, verlor spätestens nach der endgültigen Vertreibung der Juden aus der Provence im Jahr 1498 ihren Einfluss. Dass Rabbi Joseph Colon nach Italien umzog, hängt mit der sich verschlechternden Lage der Savoyer Juden im 15. Jahrhundert zusammen. Die französische Tradition blieb in den kleinen Gemeinden Norditaliens (Piemont und Lombardei) lebendig und verschwand erst langsam im 19. Jahrhundert.

Laut Talmud soll das Chanukkalicht an eine Türöffnung oder in ein Fenster gestellt werden.

Rabbi Joseph Caro machte ausgiebig Gebrauch von der Antwort Mahariks und akzeptierte beim Gebot des Anzündens der Chanukkakerzen dessen Entscheidung. Durch den Erfolg und den zunehmenden Einfluss des Schulchan Aruch verbreitete sich dieser Brauch schnell, er wurde sofort in der sefardischen Welt übernommen und allmählich dann auch in der aschkenasischen.

Im 16. und 17. Jahrhundert wurden neue Konzepte des Zündens entwickelt, um den widersprüchlichen halachischen Anforderungen gerecht zu werden. Heute wird die Anordnung des Schulchan Aruch allgemein akzeptiert, und nur sehr wenige kleine Gemeinden verhalten sich anders, zum Beispiel die Peruschim von Jerusalem, die noch immer dem rheinischen Brauch folgen.

Die Entwicklung der unterschiedlichen Bräuche mag sehr überraschend erscheinen, denn in unserem Alltag haben wir oft den Eindruck, dass jüdische Traditionen unveränderlich sind. Doch wir sehen, wie lebendig die Halacha ist und wie sie sich fortlaufend den Begebenheiten und Anforderungen anpasst.

Der Autor ist Rabbiner der Synagogengemeinde Konstanz und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

Studium

»Was wir von den Rabbinern erwarten, ist enorm«

Seit 15 Jahren werden in Deutschland wieder orthodoxe Rabbiner ausgebildet. Ein Gespräch mit dem Gründungsdirektor des Rabbinerseminars zu Berlin, Josh Spinner, und Zentralratspräsident Josef Schuster

von Mascha Malburg  21.11.2024

Europäische Rabbinerkonferenz

Rabbiner beunruhigt über Papst-Worte zu Völkermord-Untersuchung

Sie sprechen von »heimlicher Propaganda«, um Verantwortung auf die Opfer zu verlagern: Die Europäische Rabbinerkonferenz kritisiert Völkermord-Vorwürfe gegen Israel scharf. Und blickt auch auf jüngste Papst-Äußerungen

von Leticia Witte  19.11.2024

Engagement

Im Kleinen die Welt verbessern

Mitzvah Day: Wie der Tag der guten Taten positiven Einfluss auf die Welt nehmen will

von Paula Konersmann  17.11.2024

Wajera

Offene Türen

Am Beispiel Awrahams lehrt uns die Tora, gastfreundlich zu sein

von David Gavriel Ilishaev  15.11.2024

Talmudisches

Hiob und die Kundschafter

Was unsere Weisen über die Ankunft der Spione schreiben

von Vyacheslav Dobrovych  15.11.2024

Gebote

Himmlische Belohnung

Ein Leben nach Gʼttes Regeln wird honoriert – so steht es in der Tora. Aber wie soll das funktionieren?

von Daniel Neumann  14.11.2024

New York

Sotheby’s will 1500 Jahre alte Steintafel mit den Zehn Geboten versteigern

Mit welcher Summe rechnet das Auktionshaus?

 14.11.2024

Lech Lecha

»Und du sollst ein Segen sein«

Die Tora verpflichtet jeden Einzelnen von uns, in der Gesellschaft zu Wachstum und Wohlstand beizutragen

von Yonatan Amrani  08.11.2024

Talmudisches

Planeten

Die Sterne und die Himmelskörper haben Funktionen – das wussten schon unsere Weisen

von Chajm Guski  08.11.2024