Nachdem Noach die Arche nach der Sintflut verlassen hatte, pflanzte er einen Weinstock. In der Tora heißt es »wajachel Noach« (9,20), was gewöhnlich mit »und Noach begann« übersetzt wird.
Der mittelalterliche Kommentator Raschi (1040–1105) meint, die Wörter »wajachel« seien ein Hinweis darauf, dass sich Noach herabwürdigte, ja entweihte, als er nach dem Verlassen der Arche als Erstes einen Weinstock pflanzte.
Es gibt viele Dinge, die der Schulchan Aruch nicht erwähnt, weil sie eindeutig in der Tora festgehalten sind.
Derselbe Noach, der am Beginn des Wochenabschnitts als rechtschaffen und vollkommen (Zaddik, Tamim) bezeichnet wurde, erlebt einen geistigen Abstieg und wird nun als »Am Haaretz« – »Mann der Erde« – beschrieben. Wein hätte nicht die erste Feldfrucht sein sollen, die er pflanzte. Es war kein guter und vielversprechender Neubeginn auf trockenem Boden.
GRÖSSE Rabbiner Owadja ben Jakow Sforno (1470–1550) erklärt, es sei an sich kein Verbrechen gewesen, einen Weinstock zu pflanzen – aber für jemanden wie Noach hätte es nicht das Erste sein sollen.
Oft fängt der Abstieg aus der geistigen Höhe eines Gerechten auf die Stufe eines gewöhnlichen Menschen genauso an. Es beginnt nicht mit dem Abstreiten jeglicher Werte, an die man bisher geglaubt hat, sondern mit einer Handlung, die für eine Person seiner Größe einfach unpassend ist.
Raw Henoch Leibowitz (1918–2008) zitiert einen berühmten Ausspruch von Rabbi Vidal di Tolosa, dem Maggid Mischne aus dem 14. Jahrhundert. Dieser sagte, dass die Mizwa »Du sollst das Richtige (Gerade) und das Gute tun« – »haJaschar wehaTow« (5. Buch Mose 6,18) eine Aufforderung ist, sich angemessen zu verhalten.
Der Maggid Mischne erklärt, dass die Tora nicht auf alle Einzelheiten eingehen kann.
Viele Menschen fragen, wenn sie darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Tora von ihnen ein bestimmtes Verhalten verlangt: »Wo steht das geschrieben? Wo sagt die Tora, dass man das nicht tun soll? Wo steht im Schulchan Aruch, dass das verboten ist?« Die Antwort auf diese Frage gibt eben dieser Vers: »Du sollst tun, was gut und richtig ist.«
Der Maggid Mischne erklärt, dass die Tora nicht auf alle Einzelheiten eingehen kann. Außerdem kann sich das, was gut und richtig ist, mit der Zeit ändern. Die Tora wurde jedoch für alle Zeiten und Orte gegeben. Die Einzelheiten dessen, was wir als »haJaschar wehaTow« empfinden, können sich mit der Zeit ändern und an verschiedenen Orten unterschiedlich ausgelegt werden. Es gibt keinen bestimmten Weg, ein »Mentsch« (eine Person, die sich moralisch und ethisch richtig verhält) zu sein. Aber die Verpflichtung, ein »Mentsch« zu sein, ist allumfassend. Es ist ein positives biblisches Gebot.
WÜRDE Dieses Gebot erstreckt sich auf viele Bereiche unseres Lebens. Die Achtung der Würde, der Gefühle und auch der Zeit anderer Menschen gehört mit Sicherheit ebenfalls dazu.
Wo zum Beispiel steht im Schulchan Aruch, dass man pünktlich zu seinem Termin kommen soll, wenn man einem anderen Menschen diese Zeit zugesagt hat und er auf einen wartet? Es wird im Schulchan Aruch gar nicht erwähnt. Warum nicht? Weil es ein ausdrückliches biblisches Gebot ist! Es gibt viele Dinge, die der Schulchan Aruch nicht erwähnt, weil sie eindeutig in der Tora festgehalten sind. Die Mizwa heißt: »Du sollst tun, was gut und richtig ist!« Diese Mizwa ist allgemein bekannt unter der Bezeichnung »Sei ein Mentsch!« Ein rechtschaffener Mensch kommt zu einem Termin nicht 20 Minuten zu spät, ohne einen triftigen Grund zu haben und sich vorher dafür zu entschuldigen.
Wir sollten auf die Gefühle und Bedürfnisse unserer Mitmenschen achten.
Die Umstände für die Ausführung dieser Mizwa können sich zwar nach der Begebenheit unterscheiden, doch bleibt diese Mizwa für alle diese Situationen bestehen.
Eines Tages wurde Rabbiner Mosche Feinstein (1895–1986) von einer Gruppe junger Jeschiwastudenten zum Auto begleitet. Der Rabbi nahm auf dem Beifahrersitz Platz, und einer der Studenten warf die Tür zu. Nachdem das Auto um die Ecke gefahren war, bat der Rabbiner den Fahrer, kurz anzuhalten. Der Rabbi öffnete die Tür und zog seine Hand heraus, die darin eingeklemmt war.
Der Fahrer fragte: »Wieso haben Sie so lange gewartet und nicht sofort geschrien?« Darauf antwortete Rabbi Feinstein: »Ich hätte den jungen Jeschiwastudenten, der unaufmerksam die Autotür geschlossen hat, öffentlich beschämt und ihm dadurch womöglich das Selbstvertrauen genommen.« So aber blieb er für immer derjenige, der die Ehre hatte, einen der größten Rabbiner seiner Generation zu begleiten. Hätte der Rabbi vor Schmerz aufgeschrien, wäre der junge Mann als derjenige stigmatisiert gewesen, der die Hand von Rabbi Feinstein eingeklemmt hat. Der Rabbi war bereit, große Schmerzen zu ertragen, um einen jungen Mann nicht öffentlich zu beschämen.
Empathie Von Rabbi Feinstein erzählt man sich außerdem, dass ihn jeden Freitag eine Frau anrief und er sich immer, obwohl die Stunden vor Schabbatbeginn gewöhnlich sehr stressig sind, Zeit nahm, mit ihr zu sprechen.
Eines Tages hörte jemand aus der Familie des Rabbiners, worüber er mit der Frau sprach. Es stellte sich heraus, dass sich die Frau jeden Freitag nach den Zeiten für das Zünden der Schabbatkerzen erkundigte und danach dem Rabbiner von ihrer Woche erzählte. Als Rabbi Feinstein gefragt wurde, warum er sich Zeit für diese Frau nehme, obwohl ihr doch jeder andere die Schabbatzeiten nennen könne, erzählte er, dass er diese Frau schon lange kennt. Sie sei alleinstehend, und die Schabbatzeiten seien nur ein Vorwand für sie, um von ihrer Woche zu erzählen.
So verhält sich ein rechtschaffener Mensch, der sich darum bemüht, das Richtige und das Gute zu tun. Und obwohl nicht jeder von uns (sofort) die Stufe von Rabbiner Feinstein erreichen kann, ist uns die Richtung, in die wir uns entwickeln sollten, vorgegeben: nämlich auf die Gefühle und Bedürfnisse unserer Mitmenschen zu achten und uns dementsprechend zu verhalten.
Der Autor ist Gemeinderabbiner der Synagogengemeinde Konstanz und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).
Paraschat Noach
Der Wochenabschnitt erzählt von G’ttes Beschluss, die Erde zu überfluten. Das Wasser soll alles Leben vernichten und nur Noach verschonen. Der soll eine Arche bauen, auf die er sich mit seiner Familie und einem Paar von jeder Tierart zurückziehen kann. So erwacht nach der Flut neues Leben. Der Ewige setzt einen Regenbogen in die Wolken als Symbol seines ersten Bundes mit den Menschen. Doch die beginnen, die Stadt Babel zu erbauen, und errichten einen Turm, der in den Himmel reicht.
Erstes Buch Mose 6,9 – 11,32